Gerüst? Nein, danke! Wann sich Höhenarbeit am Seil für dich wirklich lohnt

Höhenarbeit ohne Gerüst? Entdecken Sie die kreative Revolution in der Bauindustrie, die Sicherheit und Flexibilität neu definiert!

von Anna Müller

Ich erinnere mich an einen Job, der mir echt im Gedächtnis geblieben ist. Wir sollten an einer ziemlich verwinkelten, denkmalgeschützten Fassade losen Putz sichern. Ein Gerüst hätte nicht nur ein kleines Vermögen gekostet, sondern auch die empfindliche Bausubstanz über Monate belastet. Der Eigentümer war, ehrlich gesagt, ziemlich ratlos.

Unsere Lösung? Wir haben die Arbeit mit Seilzugangstechnik an nur zwei Tagen erledigt. Schnell, sicher und ohne auch nur einen Kratzer am alten Gemäuer zu hinterlassen. Genau solche Erlebnisse zeigen, warum ich meinen Beruf als Handwerksmeister und zertifizierter Höhenarbeiter so schätze.

Seit über einem Jahrzehnt bin ich in diesem Bereich unterwegs. Ich hab auf Windrädern in der Nordsee gearbeitet, an Hochhausfassaden in Großstädten und unzählige Male an Orten, wo sonst niemand hinkommt. Eines habe ich dabei gelernt: Die Arbeit in der Höhe ohne Gerüst ist kein billiger Trick, sondern eine hochspezialisierte und oft einfach die cleverere Methode. Aber nur, wenn man ganz genau weiß, was man tut. In diesem Beitrag zeige ich dir, wann Seiltechnik wirklich Sinn macht, worauf es bei der Sicherheit ankommt und wie du echte Profis von Abenteurern unterscheidest.

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Was ist diese „Seilzugangstechnik“ (SZP) überhaupt?

Viele Leute denken bei unserer Arbeit ans Bergsteigen in den Alpen. Das ist ein Irrtum, und ehrlich gesagt ein ziemlich gefährlicher. Seilzugangstechnik, oft auch SZP genannt, ist ein streng reguliertes Arbeitsverfahren. Der wichtigste Grundsatz lautet: Redundanz. Klingt technisch, bedeutet aber nur: Alles ist doppelt gesichert.

Wir arbeiten immer an zwei komplett getrennten Seilen. Ein Seil ist das Arbeitsseil, an dem wir uns abseilen oder aufsteigen. Das zweite Seil ist ein reines Sicherungsseil, an dem ein mitlaufendes Sicherungsgerät befestigt ist. Sollte – aus welchem Grund auch immer – das Arbeitsseil oder ein Teil der Ausrüstung versagen, fängt uns das zweite System sofort auf. Das ist keine Option, sondern absolute Vorschrift.

In Deutschland wird das alles durch staatliche Vorschriften für Betriebssicherheit genau geregelt. Verbände definieren die Ausbildungsstandards und zertifizieren die Anwender. Ein professioneller Höhenarbeiter hat also keinen Kletterkurs im Urlaub gemacht, sondern eine anspruchsvolle, mehrstufige Ausbildung durchlaufen.

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Ein Qualitätsmerkmal, das du kennen solltest: Die Ausbildungsstufen

Um zu verstehen, wer da an deiner Fassade hängt, solltest du die Qualifikationen kennen. Die sind nämlich entscheidend:

  • Level 1 (Grundkurs): Der Einsteiger. Er lernt die Grundlagen und darf nur unter ständiger Aufsicht eines erfahrenen Kollegen (Level 2 oder 3) arbeiten.
  • Level 2 (Fortgeschritten): Nach mindestens einem Jahr und reichlich Praxis kann man die Prüfung für Level 2 machen. Dieser Profi darf schon komplexere Seilaufbauten errichten und anspruchsvollere Rettungen durchführen. Er leitet auch die Level-1-Anwender an.
  • Level 3 (Aufsichtsführender): Das ist die höchste Stufe und der Chef auf der Baustelle. Er ist für alles verantwortlich: Er erstellt die Gefährdungsbeurteilung, plant die Rettung, ist dein Ansprechpartner und überwacht die komplette Arbeit. Wichtig für dich als Auftraggeber: Auf jeder Baustelle muss mindestens ein Level-3-Aufsichtsführender anwesend sein!

Wenn du also ein Angebot einholst, frag immer gezielt nach der Qualifikation des Teams. Ein Team nur aus Level-1-Anwendern darf gar nicht selbstständig für dich arbeiten.

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So läuft ein Auftrag mit Seiltechnik ab – ganz einfach erklärt

Für dich als Bauherr oder Verwalter ist das Ganze vielleicht eine Blackbox. Aber keine Sorge, der Ablauf ist eigentlich ganz unkompliziert und transparent:

  1. Erstkontakt & Besichtigung: Du rufst an oder schreibst eine Mail. Wir besprechen dein Problem und schauen uns die Situation vor Ort an. Das ist meistens kostenlos.
  2. Angebot & Planung: Du erhältst ein detailliertes Angebot. Darin enthalten ist nicht nur der Preis, sondern auch die sogenannte Gefährdungsbeurteilung und ein Rettungskonzept. Das klingt nach Papierkram, ist aber unsere und deine wichtigste Versicherung.
  3. Durchführung: Zum vereinbarten Termin kommt unser Team (immer mindestens zwei Leute!). Wir bauen unsere Seile auf, sichern den Bereich am Boden ab und erledigen die Arbeit – meist viel schneller als du denkst.
  4. Abnahme & Abbau: Wenn alles erledigt ist, schauen wir uns das Ergebnis gemeinsam an. Danach bauen wir unsere Ausrüstung rückstandslos wieder ab. Oft ist schon am Abend nichts mehr von uns zu sehen, außer dass das Problem gelöst ist.
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Wann ist Seiltechnik schlauer als ein Gerüst?

Ein Gerüst hat absolut seine Berechtigung. Für flächige Arbeiten über lange Zeiträume, wie eine komplette Fassadendämmung, ist es oft die beste Wahl. Aber in unzähligen Fällen ist die Seilzugangstechnik einfach die klügere, schnellere und am Ende auch günstigere Lösung.

Fall 1: Punktuelle und kurzfristige Arbeiten

Stell dir vor, eine einzelne Silikonfuge an einer Glasfassade im 8. Stock ist undicht. Oder ein Blitzableiter muss nach einem Sturm geprüft werden. Für solche Kleinigkeiten ein Gerüst aufzubauen, wäre wirtschaftlicher Wahnsinn. Die Kosten für Aufbau, Miete und Abbau übersteigen den Wert der eigentlichen Arbeit um ein Vielfaches.

Ein konkretes Beispiel: Wir wurden zu einem Bürogebäude gerufen, bei dem Tauben auf einem kleinen Vorsprung im 12. Stock nisteten. Ein Gerüst hätte den Eingangsbereich blockiert und laut Kostenvoranschlag locker 4.000 € gekostet. Unser Zweier-Team war nach vier Stunden fertig. Wir haben uns vom Dach abgeseilt, den Bereich gereinigt und professionelle Taubenspikes montiert. Die Kosten für den Kunden? Lagen bei ca. 1.200 € – ein Bruchteil der Gerüstalternative, und der Betrieb lief ungestört weiter.

Fall 2: Schwer zugängliche Orte

Manchmal kommt man mit einem Gerüst oder einer Hebebühne schlicht nicht an die Arbeitsstelle heran. Denk mal an enge Innenhöfe, Industrieanlagen wie Silos oder Kühltürme, Brückenpfeiler oder eben historische Gebäude mit empfindlichen Fassaden.

Fall 3: Minimale Störung des Betriebs

Ein Gerüst an einem Hotel, einem Einkaufszentrum oder einem bewohnten Mehrfamilienhaus ist immer eine Belastung. Es nimmt Licht, schränkt die Sicht ein, verursacht Lärm und stellt ein Sicherheitsrisiko dar (Einbruchsgefahr!). Höhenarbeiter kommen morgens, bauen ihre Seile auf und sind abends wieder weg. Die Beeinträchtigung für Anwohner oder den Geschäftsbetrieb ist minimal.

Der ehrliche Kostenvergleich: Seil vs. Gerüst

Es ist falsch, pauschal zu sagen, Seiltechnik sei immer billiger. Die Tagessätze für ein zertifiziertes Zweier-Team sind höher als die für normale Handwerker. Das liegt an der Spezialausbildung, der teuren Ausrüstung (die übrigens jährlich geprüft wird, quasi der TÜV für unser Equipment) und dem höheren Risiko. Rechne mal mit Tagessätzen zwischen 1.000 € und 1.800 € für ein Zweier-Team, je nach Komplexität des Auftrags.

Der riesige Kostenvorteil entsteht woanders:

  • Keine Mietkosten: Ein Gerüst kostet pro Woche und Quadratmeter Geld, auch wenn niemand darauf arbeitet.
  • Keine Aufbau- und Abbaukosten: Diese machen oft einen riesigen Teil der Gerüstrechnung aus.
  • Keine Genehmigungsgebühren: Für Gerüste im öffentlichen Raum brauchst du oft eine Genehmigung von der Stadt, die Geld kostet und Zeit frisst.
  • Enorme Zeitersparnis: Ein Projekt, das mit Gerüst eine Woche dauert (1 Tag Aufbau, 3 Tage Arbeit, 1 Tag Abbau), können wir oft an einem einzigen Tag erledigen.

Am Ende sind die Gesamtkosten für das Projekt entscheidend. Und da ist die Seiltechnik bei den genannten Anwendungsfällen fast immer der klare Sieger.

Achtung, Falle! 3 Fehler, die du als Auftraggeber vermeiden solltest

Der Markt hat leider auch ein paar schwarze Schafe. Mit diesen Tipps schützt du dich:

  1. Auf Solo-Angebote hereinfallen: Bietet dir jemand an, die Arbeit „mal schnell alleine“ zu erledigen? Finger weg! Das ist grob fahrlässig und verboten. Profis arbeiten aus Sicherheitsgründen immer mindestens zu zweit.
  2. Die Versicherung nicht prüfen: Frag gezielt nach der Betriebshaftpflichtversicherung und lass sie dir zeigen. Wichtig: Es muss explizit drinstehen, dass „seilunterstützte Arbeitsverfahren“ versichert sind. Eine normale Handwerker-Police deckt das nicht ab!
  3. Dem Billigsten vertrauen: Wenn ein Angebot dramatisch günstiger ist als andere, sei misstrauisch. Oft wird dann an der Sicherheit, der Qualifikation (kein Level-3-Aufseher) oder der Ausrüstung gespart. Dieser Geiz kann lebensgefährlich sein.

Ein Blick in die Werkzeugkiste: Unsere Lebensversicherung

Unsere Ausrüstung ist alles. Billiges Klettermaterial aus dem Sportladen hat auf einer Profi-Baustelle nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Wir benutzen ausschließlich zertifiziertes Material nach den strengsten Industrienormen.

Ein Beispiel ist die Werkzeugsicherung. Jeder Hammer, jeder Schraubenschlüssel, jede Bohrmaschine wird mit einer speziellen Leine am Gurt gesichert. Das ist keine Kür, sondern absolute Pflicht. Kleiner Fakt am Rande: Ein fallender Akkuschrauber aus 50 Metern Höhe entwickelt beim Aufprall eine Energie, die mit einem Kleinwaffenprojektil vergleichbar ist. Die Vorstellung allein sollte genügen, um zu verstehen, warum wir den Bereich unter uns immer großräumig absperren.

Sicherheit an erster Stelle: Die ungeschriebenen Gesetze

Zertifikate sind das eine. Die wahre Sicherheit entsteht aber durch die Kultur im Team. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Rettungsplanung. Vor jedem Einsatz müssen wir einen Plan haben, wie wir einen verletzten Kollegen selbst aus dem Seil retten können – und zwar blitzschnell.

Warum? Ein sogenanntes Hängetrauma (ein Kreislaufkollaps durch passives Hängen im Gurt) kann schon nach 15-20 Minuten lebensgefährlich werden. So schnell ist keine externe Rettung da. Deshalb muss jeder im Team eine Rettung durchführen können. Das üben wir regelmäßig.

Die Grenzen der Seiltechnik: Wann ein Gerüst einfach besser ist

Ich liebe meinen Job, aber ich bin auch ein ehrlicher Handwerker. Die Methode ist kein Allheilmittel. Es gibt klare Grenzen, und es gehört zur Professionalität, diese auch zu benennen.

  • Großflächige Arbeiten: Ein komplettes Wärmedämmverbundsystem (WDVS) an einem ganzen Gebäude ist im Seil nicht sinnvoll machbar.
  • Transport schwerer Lasten: Eine 100 kg schwere Glasscheibe oder Stahlträger im Seil zu montieren, ist extrem aufwendig und riskant. Dafür gibt es Kräne und Gerüste.
  • Lange, filigrane Arbeiten: Wenn ein Restaurator stundenlang an einer winzigen Stelle meißeln muss, ist eine stabile Plattform auf einem Gerüst einfach die bessere Grundlage.

Ein seriöser Anbieter wird dich ehrlich beraten und auch mal sagen: „Ganz ehrlich, für dieses Vorhaben ist ein Gerüst die bessere und am Ende günstigere Lösung.“

So findest du den richtigen Partner für dein Projekt

Wenn du jetzt denkst, Seiltechnik könnte die Lösung für dich sein, achte bei der Firmensuche auf diese Punkte:

  • Zertifikate: Frag nach den Qualifikationsnachweisen (z. B. vom Fachverband FISAT). Lass sie dir zeigen und achte darauf, dass ein Level-3-Aufseher das Projekt leitet.
  • Versicherung: Fordere eine Kopie der speziellen Betriebshaftpflichtversicherung an (siehe „Achtung, Falle!“).
  • Referenzen: Lass dir ähnliche Projekte zeigen, die die Firma bereits umgesetzt hat.
  • Dokumentation: Frag nach der Gefährdungsbeurteilung und dem Rettungskonzept für dein Projekt. Profis erstellen das VOR Arbeitsbeginn.
  • Gesamteindruck: Sieht das Material gepflegt aus? Wird der Arbeitsbereich professionell abgesperrt? Ist die Kommunikation klar und verständlich? Hör auf dein Bauchgefühl!

Kurz gesagt: Seilzugangstechnik ist eine fantastische Methode, um Arbeiten in der Höhe sicher, effizient und oft erstaunlich kostengünstig zu erledigen. Wenn die Profis am Werk sind, lassen sich Ergebnisse erzielen, die mit traditionellen Mitteln nur schwer oder gar nicht möglich wären.

Anna Müller

Anna Mueller ist das jüngste Multitalent unter den Autoren des Archzine Online Magazins. Das Journal ist dafür bekannt, mit der Mode Schritt zu halten, damit die Leser immer über die tollsten Trends informiert sind. Anna absolvierte ihren Bachelor in Journalistik an der Freien Universität Berlin.