Der Brexit-Bauplan: Wie man mit Daten und Emotionen eine ganze Nation umbaut

Wussten Sie, dass ein Schauspieler die Geschicke einer Nation beeinflussen kann? Entdecken Sie, wie Benedict Cumberbatch im neuen Drama „Brexit“ brilliert!

von Michael von Adelhard

Ich habe in meinem Leben schon unzählige Projekte gestemmt. Manche waren ein Klacks, andere eine echte Herkulesaufgabe. Aber ganz ehrlich? Selten habe ich ein Vorhaben gesehen, das so präzise geplant und gleichzeitig so verdammt umstritten war wie die britische „Vote Leave“-Kampagne.

Viele reden ja immer nur über die Politik dahinter. Aber heute will ich mal über das Handwerk sprechen. Denn diese Kampagne war im Grunde ein gigantisches Bauprojekt. Es gab einen glasklaren Plan, hochspezialisierte Werkzeuge und ein Team, das ganz genau wusste, was es tat. Und egal, auf welcher Seite man politisch steht, man kann verdammt viel daraus lernen.

Wer ich bin, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Perspektive: die eines Praktikers, der gelernt hat, hinter die glänzende Fassade zu schauen und die Mechanik dahinter zu verstehen. Wie überzeugt man Menschen? Wie setzt man Budgets so ein, dass kein Cent verschwendet wird? Und wo lauern die Fallstricke? Die Kampagne für den Austritt ist dafür ein echtes Lehrstück. Also, schnapp dir einen Kaffee, wir schauen uns jetzt mal die Blaupausen an.

Benedict Cumberbatch - der schauspieler, der Dominic-Cummings im neuen Brexit Film verkörpert, schreibtisch  im büro mit lampen, ein mann mit einem braunen pullover und einem pinken hemd

Das Fundament: Eine Botschaft, so simpel wie genial

Jedes gute Projekt, ob Hausbau oder Marketingkampagne, fängt mit einer einzigen, starken Idee an. Bei „Vote Leave“ war es der Slogan: „Take Back Control“ – die Kontrolle zurückgewinnen. Diese drei Worte waren das Fundament, auf dem alles andere errichtet wurde.

Warum war dieser Satz so ein Volltreffer? Ganz einfach: Er zielte nicht auf den Kopf, sondern direkt in den Bauch. Er war kinderleicht zu verstehen, und jeder konnte seine eigenen Wünsche und Sorgen hineinprojizieren. Für den einen hieß es Kontrolle über die Einwanderung. Für den anderen Kontrolle über die Gesetze aus Brüssel. Und für wieder andere war es die emotionale Kontrolle über die eigene nationale Identität. Die Botschaft war vage genug, um Menschen mit völlig unterschiedlichen Motiven hinter einem Banner zu vereinen.

Und dann war da natürlich noch der andere legendäre Baustein, der auf dem roten Bus prangte: Die Behauptung, man schicke wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU, die man stattdessen ins heimische Gesundheitssystem stecken könnte. Experten haben diese Zahl schnell als grob irreführend entlarvt. Aber das war egal. Die Zahl war griffig, sie war einprägsam. Sie hat ein abstraktes Problem (EU-Beiträge) mit einer greifbaren, emotionalen Lösung (mehr Geld für Krankenhäuser) verknüpft. In der Kommunikation schlägt eine gute Geschichte eben fast immer eine trockene Tatsache.

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Der Bauplan: Daten als Präzisionswerkzeug

Die wahre Meisterschaft der Kampagne lag aber nicht nur in den Slogans, sondern darin, wie sie unters Volk gebracht wurden. Und hier wird es richtig technisch. Die Strategen nutzten Daten in einem Ausmaß, das die politische Landschaft für immer verändern sollte. Es ging nicht darum, einfach nur Werbung zu schalten. Es ging darum, die richtige Botschaft zur richtigen Zeit an die richtige Person zu bringen.

Die Wissenschaft dahinter: Mikrotargeting bis ins Detail

Das Zauberwort heißt Mikrotargeting. Man teilt die Wählerschaft nicht mehr in grobe Klötze wie „Arbeiter“ oder „Rentner“ ein. Stattdessen zerlegt man sie in tausende winzige, feingranulare Segmente. Die Grundlage dafür sind Unmengen an Daten – aus öffentlichen Wählerregistern, Umfragen, aber auch aus kommerziellen Quellen und dem Verhalten in sozialen Medien.

Stell dir das mal vor. Anstatt ein einziges Plakat für eine ganze Stadt zu entwerfen, gestaltest du 5.000 verschiedene digitale Anzeigen, jede einzelne maßgeschneidert. So konnte das aussehen:

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  • Für den Fischer in Cornwall: Eine Anzeige mit dem Bild eines Fischerboots und dem Text: „Brüssel erstickt unsere Fischerei mit Quoten. Holen wir uns die Kontrolle über unsere Meere zurück!

    VoteLeave“

  • Für die junge Mutter in Essex: Ein Bild von spielenden Kindern. Der Text dazu: „Die 350 Mio. Pfund pro Woche für die EU könnten wir besser in unsere Schulen und Krankenhäuser investieren. Für ihre Zukunft.

    VoteLeave“

  • Für den Kleinunternehmer in Manchester: Eine Anzeige, die sich über komplizierte EU-Vorschriften für Produkte beschwert und verspricht: „Weniger Bürokratie, mehr Geschäft. Holen wir uns die Kontrolle zurück.“

Eine spezialisierte Datenfirma, die eng mit anderen umstrittenen Akteuren aus dem Datenanalyse-Bereich vernetzt war, baute dafür eine gewaltige Datenbank auf. Für Millionen von Wählern wurde ein Profil erstellt, das nicht nur Alter und Wohnort umfasste, sondern auch psychografische Merkmale – also Persönlichkeit, Werte, Interessen und Lebensstil. Damit konnte die Kampagne ziemlich genau vorhersagen, wer für welches Argument am empfänglichsten war.

brexit und eu

Der Optimierungs-Trick: A/B-Tests am laufenden Band

Woher wussten die, welche Anzeige zündet? Durch gnadenloses Testen. In der Digitalwelt nennt man das A/B-Testing. Du schaltest zwei leicht unterschiedliche Versionen einer Anzeige und misst, welche besser ankommt – also mehr Klicks, Likes oder Shares generiert.

Aus meiner eigenen Erfahrung im Online-Marketing kann ich dir sagen: Das ist unfassbar mächtig. Ich erinnere mich an ein Projekt, da haben wir nur die Farbe eines Buttons von Blau auf Orange geändert und die Klickrate ging um 20 % hoch! Jetzt stell dir das mal vor, nicht mit einem Button, sondern mit der Zukunft eines Landes und einem Budget von Millionen.

An manchen Tagen liefen tausende Anzeigenvarianten gleichzeitig auf Facebook. Die Algorithmen lieferten in Echtzeit Daten zurück. Das Team sah sofort, welche Formulierungen, Bilder oder Farben die stärkste emotionale Reaktion auslösten. Die Verlierer wurden abgeschaltet, die Gewinner mit mehr Budget gepusht. Ein ständiger Kreislauf aus Testen, Messen und Anpassen – im Grunde wie die Optimierung einer Fertigungsstraße, bis sie mit maximaler Effizienz läuft.

Der Werkzeugkasten: Digital trifft auf Tradition

Eine gute Strategie ist nichts ohne die passenden Werkzeuge. Die Kampagnenführer nutzten hier einen cleveren Mix. Der eigentliche Clou war die perfekte Verknüpfung der digitalen mit der analogen Welt.

Der digitale Werkzeugkasten im Überblick:

  • Hauptwerkzeug: Der Facebook Ads Manager. Berichten zufolge flossen über 98 % des digitalen Werbebudgets genau hierhin. Kein Wunder, nirgends sonst kann man Zielgruppen so präzise nach Postleitzahl, Alter, Interessen oder sogar Online-Kaufverhalten auswählen.
  • Datenlieferant: Die Dienste spezialisierter Datenanalyse-Firmen, die Wählerprofile erstellten. Solche Dienstleistungen sind nicht billig und können je nach Umfang schnell zehntausende Euro oder mehr kosten.
  • Optimierungssoftware: Tools für A/B-Testing, um die Anzeigen in Echtzeit zu verbessern.
  • Klassische PR: Die gute alte Pressearbeit, um den roten Bus in die Fernsehnachrichten zu bringen.

Ein riesiger Vorteil der sozialen Medien war die organische Verbreitung. Wenn eine Anzeige eine starke emotionale Reaktion auslöste, teilten die Nutzer sie von selbst. So erreichte die Botschaft auch Leute, für die die Kampagne nie einen Cent bezahlt hätte. Das spielte ihnen perfekt in die Hände, denn die Algorithmen bevorzugen nun mal kontroverse und emotionale Inhalte. Die Botschaften verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.

Kleiner Tipp: Neugierig, was Facebook über dich zu wissen glaubt? Geh mal in deine Kontoeinstellungen unter den Punkt „Anzeigenvorgaben“. Du wirst dich wundern, welche „Interessen“ dir da zugeordnet sind. Das ist die Basis für das ganze Spiel.

Die Macht der alten Medien

Trotz des Fokus aufs Digitale wurden die klassischen Medien keineswegs ignoriert. Bestimmte Boulevardzeitungen unterstützten den Austrittskurs lautstark. Und der rote Bus? Ein Geniestreich für die TV-Nachrichten. Er schuf ein Bild, das sich ins kollektive Gedächtnis einbrannte und der Kampagne bei älteren, online weniger aktiven Wählergruppen Seriosität und Reichweite verschaffte. Die digitale und die traditionelle Welt verstärkten sich so gegenseitig: Eine Geschichte, die online viral ging, wurde von den Zeitungen aufgegriffen, und ein TV-Thema wurde online mit gezielter Werbung befeuert.

Das Budget: Regeln, Kosten und die Grauzonen

So ein Projekt kostet Geld. Sehr viel Geld. Die offiziellen Ausgaben lagen nahe am gesetzlichen Limit von 7 Millionen Pfund. Doch die wahren Kosten waren wohl deutlich höher. Und hier betreten wir eine rechtliche und ethische Grauzone.

Die britische Wahlkommission fand später heraus, dass die Kampagne die Regeln gebrochen hatte. Der Vorwurf: Man schleuste eine hohe sechsstellige Summe an eine kleinere, vordergründig unabhängige Brexit-Gruppe. Doch die Ermittlungen zeigten, dass die Hauptkampagne die volle Kontrolle darüber behielt, wofür dieses Geld ausgegeben wurde – nämlich für dieselben Dienstleistungen bei derselben Datenfirma. Eine clevere Methode, um das eigene Ausgabenlimit zu umgehen, aber eben illegal.

Als Handwerksmeister weiß ich: Du kannst das beste Werkzeug haben, aber wenn du die Baustatik oder die Sicherheitsvorschriften ignorierst, kann das ganze Gebäude einstürzen. Hier waren die Regeln die demokratischen Spielregeln, und sie wurden, sagen wir mal, kreativ ausgelegt.

Sicherheit & Ethik: Eine Warnung für uns alle

Einem Lehrling bringe ich nicht nur bei, wie man eine Säge benutzt. Ich bringe ihm auch bei, wann man sie besser in der Kiste lässt. Die Techniken, die hier zum Einsatz kamen, sind extrem mächtig. Und das birgt riesige Risiken.

Wo endet legitime Überzeugung und wo beginnt unlautere Manipulation? Die Kampagne hat gezielt Ängste geschürt und mit Halbwahrheiten operiert. Wenn du Menschen personalisierte Botschaften schickst, die ihre tiefsten Sorgen ansprechen, umgehst du oft die rationale Abwägung. Du sprichst direkt das limbische System an, den Teil des Gehirns, der für Emotionen zuständig ist.

So erkennst du Manipulationsversuche im Alltag

Ach ja, wie kann man sich davor schützen? Achte bei politischen Botschaften (egal von wem!) mal auf diese drei Warnsignale:

  1. Starke emotionale Sprache: Geht es um Wut, Angst oder Hass? Vorsicht! Sachliche Argumente klingen anders.
  2. Einfache Schuldzuweisungen: Wird ein komplexes Problem auf einen einzigen, einfachen Sündenbock reduziert? Das ist fast immer ein Zeichen für Propaganda.
  3. Vage Versprechen ohne Plan: Wird eine glorreiche Zukunft versprochen, ohne zu erklären, wie man dahin kommt? Wer es ernst meint, hat auch einen Plan.

Die Verantwortung liegt bei denen, die diese Werkzeuge einsetzen. Neuere Gesetze wie die DSGVO erschweren das Sammeln und Verarbeiten persönlicher Daten heute zwar, aber die technologische Entwicklung rennt weiter. Es gibt da übrigens eine sehr sehenswerte Doku auf Netflix und tiefgehende Recherchen von investigativen Journalisten, die genau diese Verstrickungen zwischen Politik, Daten und Manipulation aufdecken. Sehr empfehlenswert, wenn du tiefer graben willst.

Was am Ende davon bleibt

Diese Kampagne war mehr als nur ein politischer Sieg. Sie hat die Spielregeln für politische Auseinandersetzungen für immer verändert. Sie hat gezeigt, dass eine datengestützte und emotional aufgeladene Kampagne etablierte Strukturen einfach aushebeln kann.

Die Lektion für uns alle? Jedes große Unterfangen, sei es der Bau eines Hauses oder die Beeinflussung einer Nation, folgt gewissen mechanischen Prinzipien. Wenn du diese Prinzipien verstehst, kannst du die Welt um dich herum besser analysieren. Du erkennst die Muster, wenn sie wieder auftauchen – im Marketing, in der Werbung und eben auch in der Politik.

Aber mit großem Wissen kommt auch große Verantwortung. Das ist die letzte und vielleicht wichtigste Lektion aus dem Bauplan des Brexit.

Michael von Adelhard

Michael von Adelhard ist 31 Jahre alt. Er arbeitet seit vielen Jahren als Journalist für einige der erfolgreichsten Nachrichten-Portale Deutschlands. Autor vieler Bücher und wissenschaftlicher Publikationen zum Thema «Einfluss sozialer Medien auf Jugendliche«. Schreibt über Themen wie Lifestyle, Umweltschutz, sowie Tech and Gadgets. In seiner Freizeit ist er häufig mit dem Fahrrad unterwegs – so schöpft er Inspiration für seine neuen Artikel.