Jenseits des roten Teppichs: Ein Insider-Guide für den Maschinenraum eines Filmfestivals

Ein roter Schal, ein charmanter Direktor und der Abschied von einer Ära – die Berlinale 2020 wird unvergesslich!

von Michael von Adelhard

Ich bin jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit in der Filmbranche unterwegs, erst als Produktionsleiter, später als Produzent. Und ganz ehrlich: Ich habe die großen Festivals aus wirklich jeder Perspektive gesehen. Ich habe noch schwere 35-mm-Filmkopien durch die Gegend geschleppt, als das Wort „DCP“ noch wie Science-Fiction klang. Ich habe in stickigen Büros um Filmrechte gefeilscht und Nächte durchgemacht, um einen Film pünktlich zur Premiere fertig zu kriegen. Wenn du im Fernsehen den roten Teppich und die strahlenden Gesichter siehst, vergisst du schnell, was für eine gigantische, komplizierte Maschine so ein A-Festival ist. Es ist ein eigener Kosmos mit eigenen Regeln, einer eigenen Währung und jeder Menge Fallstricken.

Dieses Wissen findest du in keinem Lehrbuch. Und genau darum geht es hier. Nicht um Klatsch, sondern um die harte Arbeit, die Logistik und ja, auch die Politik, die hinter den Kulissen eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt ablaufen.

Was genau ist eigentlich ein „A-Festival“?

Fangen wir mal mit den Basics an. „A-Festival“ ist kein cooler Marketing-Begriff, sondern ein offizielles Gütesiegel des Weltproduzentenverbandes FIAPF. Es zeichnet die ganz Großen aus – Festivals mit einem internationalen Wettbewerb, die für Weltpremieren stehen. Das ist quasi die Champions League der Filmfestivals. Für Produzenten ist diese Akkreditierung Gold wert, denn sie garantiert, dass ihr Film unter den besten Bedingungen seine Welt- oder internationale Premiere feiert. Und die kannst du nur einmal haben. Die Wahl des richtigen Festivals entscheidet oft über den gesamten Lebenszyklus eines Films.

alter mann mit einem langen roten schal und mit einem schwarzen manten und schwarzer brille, der direktor der berlinale

Die Sache mit dem Geld: Der Motor im Hintergrund

Ein Budget von über 30 Millionen Euro klingt erstmal gigantisch. Ist es auch. Aber das Geld versickert in unzähligen Posten, die man als normaler Besucher gar nicht wahrnimmt. Die Miete für den großen Festivalpalast ist da nur die Spitze des Eisbergs. Dazu kommen Dutzende andere Kinosäle, die für die Festivalzeit angemietet und technisch aufgerüstet werden müssen. Jeder Projektor wird neu kalibriert, der Ton in jedem Saal perfektioniert. Allein das ist schon eine logistische Meisterleistung.

Und dann sind da die ganzen unsichtbaren Kosten:

  • Personal: Während des Festivals explodiert das Team auf hunderte Mitarbeiter. Fahrer, Techniker, Übersetzer, Gästebetreuer… Viele davon sind hochspezialisierte Freiberufler, die man nicht zum Mindestlohn bekommt.
  • Technik & Logistik: Heute kommen Filme als Digital Cinema Package (DCP). Das sind im Grunde verschlüsselte Festplatten. Klingt simpel, ist es aber nicht. Ich erinnere mich an einen Thriller, bei dem unser DCP aus Südamerika im Zoll festhing. Wir mussten über Nacht einen neuen Freischalt-Schlüssel (den KDM-Key) vom Weltvertrieb besorgen und die Festplatte quasi per Kurier aus dem Zollamt befreien. Das kostete uns Nerven und locker 1.500 Euro. Ohne die richtigen Kontakte wäre die Premiere geplatzt. Ein absoluter Albtraum.
  • Rechte & Lizenzen: Für jeden Trailer, jeden Musikschnipsel, der im Rahmenprogramm läuft, fallen Gebühren an. Das läppert sich ungemein.
  • Sicherheit: Ein unauffälliger, aber extrem teurer Posten. Die Anforderungen sind in den letzten Jahren enorm gestiegen, nicht nur für den roten Teppich, sondern auch zum Schutz der sensiblen Filmdaten.

Finanziert wird dieser Zirkus übrigens nur zu einem kleinen Teil durch Ticketverkäufe. Der Löwenanteil kommt von der öffentlichen Hand, also vom Bund und vom Land. Ein weiterer riesiger Brocken stammt von Sponsoren – ohne die großen Partner, oft aus der Automobil- oder Luxusbranche, wäre ein Festival dieser Größenordnung undenkbar. Aber der eigentliche Motor, der die ganze Kunst subventioniert, ist der European Film Market (EFM). Das ist die Film-Messe, bei der Verleiher und Produzenten teils horrende Standgebühren zahlen – ein kleiner Stand fängt da schnell bei 8.000 Euro an, und die Akkreditierungen für dein Team kommen noch obendrauf. Mit dem hier verdienten Geld wird quasi das künstlerische Programm des Festivals querfinanziert.

die neue direkors von dem berlinale-festival, carlo chatrain und Mariette Rissenbee, ein alter mann mit einem weißen hemd und mit schwarzer brille, eine alte frau mit weißen ohrringen

Der lange Weg auf die Leinwand: So kommt ein Film ins Programm

Jedes Jahr werden tausende Filme eingereicht. Nur ein winziger Bruchteil schafft es. Wie also navigiert man diesen Prozess?

Die Einreichung: Mehr als nur ein Online-Formular

Als Produzent reichst du deinen Film nicht einfach so irgendwo ein. Eine Einreichung kostet Geld, je nach Einreichphase und Sektion können das schon mal zwischen 125 und 175 Euro sein. Du brauchst eine Strategie. Du musst wissen, welche Sektion die richtige für deinen Film ist.

Ganz grob kann man die wichtigsten Sektionen so unterscheiden:

  • Der Wettbewerb: Das ist die Königsklasse. Hier laufen die großen, prestigeträchtigen Kunstfilme, oft mit bekannten Namen. Die mediale Aufmerksamkeit ist riesig, aber die Konkurrenz ist mörderisch. Für Neulinge fast unmöglich, hier zu landen.
  • Das Panorama: Diese Sektion ist oft politischer, mutiger und hat einen starken Fokus auf queeres Kino und gesellschaftlich relevante Themen. Das Prestige ist hoch und für einen starken Debütfilm oft die bessere, weil passendere Bühne.
  • Das Forum: Hier ist das Experimentierfeld. Avantgardistische Filme, lange Dokumentationen, unkonventionelle Erzählformen. Hier geht es weniger um den roten Teppich und mehr um den filmischen Diskurs.

Kleiner Tipp, den ich jedem ans Herz lege: Wenn du niemanden kennst, engagiere einen erfahrenen Festival-Strategen oder einen Weltvertrieb. Die haben die direkten Nummern der Programm-Macher. Ein Anruf von einer bekannten Agentur wird einfach ernster genommen als eine E-Mail von einem Unbekannten. Traurig, aber wahr.

der direktor der berlinale, kosslick mit einem roten langen schal und mit schwarzer brille und mit einem schwarzen mantel und kleinem weißen handy

Nach der Zusage: Jetzt geht der Stress erst richtig los!

Die Zusage ist pure Euphorie. Für etwa fünf Minuten. Dann beginnt die Arbeit. Innerhalb weniger Wochen musst du Unmengen an Material liefern: professionelle Pressefotos, Dialoglisten für die Untertitelung, Trailer und natürlich das finale, fehlerfreie DCP. Ich hatte mal eine Produktion, die mit einem Rohschnitt angenommen wurde. Regisseur und Cutter haben danach sechs Wochen lang Tag und Nacht im Schneideraum verbracht. Der finale Sound-Mix wurde drei Tage vor der Weltpremiere fertig. Das musst du aushalten können.

Der European Film Market (EFM): Wo das eigentliche Geschäft läuft

Für die meisten Profis ist der Filmmarkt wichtiger als die Premieren. Hier wird Geld verdient. Man hetzt zwischen den Ständen und hat alle 30 Minuten ein Meeting. Man trifft Verleiher aus Japan, den USA, Frankreich. Hier werden Deals gemacht, die über die Zukunft deines Films entscheiden.

Ein häufiger Fehler von Neulingen: Sie gehen auf die Partys, um Spaß zu haben. Falsch! Partys sind Arbeit. Du gehst hin, um Kontakte zu knüpfen. Aber – und das ist die goldene Regel – pitche niemals deinen Film auf einer Party! Das wirkt verzweifelt und unprofessionell. Tausch Visitenkarten aus und schreib am nächsten Morgen eine Mail für ein richtiges Meeting. Alles andere ist Zeitverschwendung.

theater am potsdamer palast und viele menschen und rotter teppich, logo bon berlinale mit einem roten großen bär

Dein Überlebens-Kit für den Festival-Marathon

Zehn Tage Festival sind ein körperlicher und mentaler Marathon. Ohne Plan gehst du unter. Hier sind ein paar Dinge, die sich bewährt haben.

Was unbedingt in den Koffer muss (die Berlinale-Packliste):

  • Bequeme Schuhe! Du wirst Kilometer laufen. Ernsthaft. Lass die schicken Treter im Hotel.
  • Eine Powerbank. Dein Handy-Akku wird mittags leer sein. Garantiert.
  • Visitenkarten. Mehr als du denkst. Mindestens 100 Stück.
  • Halstabletten und Desinfektionsgel. Die „Festival-Grippe“ ist kein Mythos.
  • Eine wiederverwendbare Wasserflasche. Bleib hydriert, sonst ist dein Gehirn Matsch.

Dein erster Tag auf dem Filmmarkt: Ein 5-Punkte-Plan

  1. Badge früh abholen: Mach das am Tag vor dem offiziellen Start, um die riesige Schlange zu vermeiden.
  2. Orientieren: Nimm dir 30 Minuten Zeit, um dir die verschiedenen Standorte anzusehen. Wo sind die wichtigen Player? Wo ist der Kaffee?
  3. Kalender checken: Deine Meetings sind fix. Aber wo sind die Lücken? Plane Puffer ein.
  4. Tagesziel setzen: Nimm dir vor, mit fünf neuen, relevanten Leuten zu sprechen. Mehr ist unrealistisch.
  5. Kopf frei kriegen: Geh bewusst zu einem Screening eines Films, der dich wirklich interessiert. Das ist die beste Pause.

Die unsichtbaren Risiken: Wenn Träume platzen

Der Glanz kann täuschen. Ein Festivalbesuch ist mit enormen Risiken verbunden. Ich war an einer Produktion beteiligt, deren gesamte Marketingstrategie auf eine Wettbewerbsteilnahme ausgerichtet war. Der Film wurde von der Kritik zerrissen und fand keinen deutschen Verleih. Am Ende stand da ein Loch von über 700.000 Euro in der Kasse. Die Produktionsfirma musste danach komplett umstrukturiert werden. Das ist die brutale Realität.

Profis arbeiten deshalb mit Versicherungen. Eine davon ist die sogenannte E&O-Insurance (Errors & Omissions). Das ist im Grunde eine Haftpflichtversicherung für Urheberrechtsfragen. Ohne diese Versicherung verkaufst du keinen Film in die USA. Und die bekommst du nur, wenn deine „Chain of Title“ lückenlos ist – also der Nachweis aller Rechte, vom Drehbuch bis zur Musik. Apropos Musik: Kläre IMMER alle Musikrechte, bevor du auch nur einen Fuß auf ein Festival setzt. Ich habe erlebt, wie eine Premiere per einstweiliger Verfügung gestoppt wurde, weil ein Komponist seine Rechte verletzt sah. Der Image-Schaden ist verheerend.

Ach ja, und unterschätze die psychische Belastung nicht. Zehn Tage wenig Schlaf, ständiger Druck, Meetings, Partys und dazu das kalte Februarwetter. Pass auf dich auf. Es ist kein Sprint.

Der Motor läuft weiter…

Ein großes Filmfestival ist immer ein Spiegel seiner Zeit. Die Ausrichtung ändert sich mit der Leitung, mal ist es publikumsnäher, mal cineastisch-anspruchsvoller. Das ist ein ganz normaler Prozess. Wer hier Erfolg haben will, braucht mehr als nur einen guten Film. Du brauchst Handwerk, strategisches Denken, ein dickes Fell und ein Verständnis für die unsichtbaren Kräfte, die im Maschinenraum wirken.

Der rote Teppich wird jedes Jahr wieder ausgerollt. Aber die eigentliche Arbeit, die den Motor am Laufen hält, findet woanders statt: in den Schneideräumen, den Finanzierungsrunden und den winzigen Meeting-Kabinen des Filmmarkts.

Michael von Adelhard

Michael von Adelhard ist 31 Jahre alt. Er arbeitet seit vielen Jahren als Journalist für einige der erfolgreichsten Nachrichten-Portale Deutschlands. Autor vieler Bücher und wissenschaftlicher Publikationen zum Thema «Einfluss sozialer Medien auf Jugendliche«. Schreibt über Themen wie Lifestyle, Umweltschutz, sowie Tech and Gadgets. In seiner Freizeit ist er häufig mit dem Fahrrad unterwegs – so schöpft er Inspiration für seine neuen Artikel.