Der Nobelpreis-Zirkus: Was hinter der wichtigsten literarischen Auszeichnung wirklich steckt

Zwei Medaillen, zwei Geschichten: Entdecken Sie die faszinierenden Welten von Olga Tokarczuk und Peter Handke, den Literaturnobelpreisträgern 2019.

von Michael von Adelhard

Ich kann mich noch lebhaft an einen bestimmten Herbst erinnern. Auf der großen Buchmesse lag eine ganz besondere Spannung in der Luft, fast greifbar. Normalerweise ist die Bekanntgabe des Literaturnobelpreises ein festes Ritual im Kalender, fast schon beruhigend in seiner Vorhersehbarkeit. Aber in jenem Jahr war alles anders. Nach einem riesigen Skandal und einer abgesagten Verleihung im Vorjahr lag ein dunkler Schatten über Stockholm.

Wir alle im Literaturbetrieb – egal ob Verleger, Kritikerin oder Buchhändler – haben uns dieselbe Frage gestellt: Wie will die Schwedische Akademie das verlorene Vertrauen bloß zurückgewinnen? Dann die Paukenschlag-Nachricht: eine doppelte Vergabe! Eine versöhnliche Wahl und eine, die für hitzige Debatten sorgte. Selten hat eine Entscheidung die Stärken und Schwächen dieser alten Institution so nackt offengelegt.

Ganz ehrlich, in meinen Jahrzehnten in dieser Branche habe ich gelernt: Dieser Preis ist so viel mehr als eine Goldmedaille und ein dicker Scheck. Er ist ein Seismograf für kulturelle Beben, ein Spiegel politischer Debatten und, ja, auch ein gewaltiger Wirtschaftsmotor. Um zu verstehen, was da wirklich abging, müssen wir einen Blick hinter den Vorhang werfen. Das hier ist keine simple Geschichte über gute und schlechte Bücher. Es ist eine Geschichte über Macht, Tradition und den verzweifelten Versuch, eine über 100 Jahre alte Idee in der modernen Welt am Leben zu erhalten.

eine goldene münze mit alfred nobel, eine hand und der literaturnobelpreis, ein mann mit goldenem bart

Die Spielregeln: Was der Stifter ursprünglich wollte

Jede Debatte über den Preis muss an ihrem Ursprung beginnen: dem Testament eines berühmten schwedischen Erfinders. Er verfügte, dass sein Vermögen einen Fonds speisen sollte. Die Zinsen sollten jährlich an jene gehen, die „der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Für die Literatur fand er eine Formulierung, die bis heute für Kopfzerbrechen sorgt: Der Preis solle an denjenigen gehen, der „das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat“.

Und genau hier fängt das Problem an. Was zum Teufel ist eine „idealistische Richtung“? Diese Worte sind dehnbar wie Kaugummi. In den ersten Jahrzehnten hat die Akademie das sehr konservativ ausgelegt. Man mochte Autoren, die hohe moralische Werte vertraten, oft mit einem Hang zum Bürgerlichen oder Kirchlichen. Radikale Querdenker, die damals die Literatur umkrempelten, hatten keine Chance. Sie passten einfach nicht ins Bild.

Die Aufgabe, diesen Willen zu deuten, fiel der Schwedischen Akademie zu. Das ist, anders als viele glauben, kein internationales Gremium. Es ist ein elitärer Zirkel von 18 schwedischen Schriftstellern, Historikern und Sprachwissenschaftlern, genannt „Die Achtzehn“. Ihre eigentliche Hauptaufgabe ist die Pflege der schwedischen Sprache. Der Nobelpreis war quasi ein Nebenjob – einer, der sie weltberühmt und gleichzeitig extrem angreifbar gemacht hat.

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Der geheime Auswahlprozess: So läuft das ab

Wie die Akademie zu ihrer Entscheidung kommt, ist ein Mysterium. Die Archive, in denen alle Nominierungen und Debatten schlummern, bleiben für 50 Jahre versiegelt. Das befeuert natürlich die wildesten Spekulationen.

Was wir aber wissen, ist der grobe Ablauf:

  • Die Vorschläge: Bis Ende Januar dürfen weltweit qualifizierte Personen (Akademiemitglieder, Literaturprofessoren, frühere Preisträger etc.) Namen einreichen. Sich selbst vorschlagen? Absolut verboten.
  • Die lange Liste: Im Frühling stellt ein kleineres Nobelkomitee eine Liste mit rund 200 Namen zusammen.
  • Die kurze Liste: Bis zum Sommer wird radikal gekürzt, erst auf etwa 20, dann auf eine finale Shortlist von fünf Kandidaten. Diese fünf werden von allen Akademiemitgliedern über den Sommer intensiv gelesen.
  • Die Entscheidung: Im Herbst wird diskutiert und Anfang Oktober abgestimmt. Wer mehr als die Hälfte der Stimmen bekommt, hat gewonnen.

Diese extreme Geheimhaltung soll die Mitglieder vor äußerem Druck schützen. Aber, mal ehrlich, sie schafft auch einen Nährboden für persönliche Vorlieben, politische Spielchen und erbitterte Grabenkämpfe, von denen wir da draußen nie etwas erfahren.

ein grüner stuhl und eine frau mit grauem schal, die polnische schriftstellerin Olga Tokarczuk , litertaurnobelpreis 2019

3 Mythen über den Nobelpreis, die jeder glaubt

Ach ja, bevor wir weitermachen, lasst uns mal kurz mit ein paar gängigen Irrtümern aufräumen. Das hilft, die ganze Sache besser einzuordnen.

1. „Ein internationales Komitee entscheidet.“ Falsch! Wie gesagt, es sind 18 Schwedinnen und Schweden, die in Stockholm tagen. Das macht die stark europäische Schlagseite des Preises verständlicher, oder?

2. „Der Preis wird für ein bestimmtes Buch verliehen.“ Auch falsch. Ausgezeichnet wird immer das literarische Lebenswerk eines Autors, auch wenn die Akademie in ihrer Begründung oft einzelne Werke hervorhebt.

3. „Nur Romanautoren können gewinnen.“ Absolut nicht! Dramatiker, Lyrikerinnen und sogar Essayisten haben den Preis schon bekommen. Wusstest du schon, dass sogar mal ein berühmter britischer Staatsmann für seine Geschichtsbücher ausgezeichnet wurde? Verrückt, aber wahr.

Der Riss im Fundament: Die große Krise

Um die denkwürdige Doppelvergabe zu verstehen, müssen wir kurz auf die Krise blicken, die ihr vorausging. Im Zuge der großen gesellschaftlichen Debatte über Machtmissbrauch geriet eine dem Kulturzirkel der Akademie nahestehende Person ins Visier schwerer Vorwürfe. Die Situation wurde noch pikanter, da seine Ehefrau ebenfalls Mitglied der Akademie war.

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Der Skandal zog weite Kreise. Es kamen Gerüchte auf, dass die Namen von Preisträgern vorab an Wettbüros durchgesickert seien. Die Akademie selbst war tief gespalten, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Als eine knappe Mehrheit sich gegen Konsequenzen für das betroffene Akademiemitglied entschied, kam es zum Eklat. Mehrere Mitglieder, darunter die damalige Leiterin, legten aus Protest ihre Arbeit nieder. Plötzlich war die ehrwürdige Institution beschlussunfähig und hatte jede moralische Autorität verspielt. Die Konsequenz war eine Demütigung: Der Preis wurde für ein Jahr ausgesetzt – ein Vorgang, den es so außerhalb der Weltkriege noch nie gegeben hatte.

Die doppelte Antwort: Eine Geste der Versöhnung, eine der Provokation

Die Akademie nutzte die Zwangspause für Reformen. Und dann kam die doppelte Bekanntgabe. Eine geniale Strategie, wenn man genauer hinsieht.

Die sichere Bank & die gezielte Provokation

Die eine Hälfte der Entscheidung, die Vergabe des nachgeholten Preises an eine gefeierte polnische Autorin, war ein cleverer Schachzug. Sie war die perfekte Kandidatin, um die Wogen zu glätten: international angesehen, kritisch, aber nicht zu radikal, pro-europäisch. Eine Wahl, gegen die niemand ernsthaft etwas einwenden konnte. Sie war ein Symbol für das, was der Preis sein will: eine Feier großer Weltliteratur.

Gleichzeitig aber vergab man den regulären Preis an einen stilistisch brillanten, aber politisch extrem umstrittenen österreichischen Autor. Seine Haltung in den Balkankriegen hatte tiefe Wunden gerissen. Das war eine Machtdemonstration: Wir lassen uns nicht vorschreiben, wen wir auszuzeichnen haben! Hier prallte das Prinzip der Kunstfreiheit frontal auf die ethische Verantwortung des Künstlers.

Kleiner Tipp für Einsteiger: Wenn du neugierig geworden bist, fragst du dich jetzt sicher: Wo anfangen? Bei der polnischen Preisträgerin würde ich ihren Roman über das Reisen und den menschlichen Körper empfehlen – zugänglicher als ihr monumentales historisches Epos. Beim österreichischen Autor ist seine berührende, kurze Erzählung über den Tod seiner Mutter ein besserer Einstieg als seine frühen, sehr provokanten Theaterstücke.

Die Maschinerie: Geld, Verlage und ewige Kandidaten

Ein Preis dieser Größenordnung ist niemals nur eine Sache der Kunst. Als jemand, der oft auf den großen Buchmessen unterwegs ist, sehe ich, wie die Weichen gestellt werden. Große Verlage bauen ihre wichtigsten Autoren über Jahrzehnte systematisch auf. Sie finanzieren teure Übersetzungen und sorgen dafür, dass ihre Schützlinge international wahrgenommen werden. Das ist kein plumpes Lobbying, sondern strategische Positionierung.

Der „Nobel-Effekt“ und was er dich kostet

Der Preis ist mit fast einer Million Euro dotiert. Beeindruckend. Aber für die Verlage ist der kommerzielle Effekt noch wichtiger. Sobald der Name fällt, explodieren die Verkaufszahlen. Bücher, die vorher ein Nischendasein fristeten, werden über Nacht zu Bestsellern. Das gesamte Werk wird neu aufgelegt.

Gut zu wissen: Wenn du direkt nach der Bekanntgabe ein Buch des Preisträgers kaufen willst, rechne mit Preisen um die 25-30 Euro für die frisch gedruckte gebundene Ausgabe. Etwas später erscheinen dann die Taschenbücher, die meist zwischen 15 und 20 Euro liegen.

Die berühmtesten „Verlierer“ – und was du von ihnen lesen solltest

Jedes Jahr im Herbst beginnt das große Raten und immer fallen dieselben Namen, die am Ende doch leer ausgehen. Diese Liste der ewigen Kandidaten ist fast so berühmt wie die der Gewinner. Um dir den Einstieg zu erleichtern:

  • Der japanische Kultautor: Bekannt für sprechende Katzen, Jazz und Parallelwelten. Ein super Einstieg ist sein melancholischer Roman über eine Dreiecksbeziehung in den 60er Jahren.
  • Die kanadische Visionärin: Die Meisterin der Dystopien. Ihr berühmtestes Werk über eine totalitäre Theokratie ist heute relevanter denn je und ein absolutes Muss.
  • Der syrische Dichter: Einer der größten Lyriker der arabischen Welt. Seine Gedichte sind kraftvoll und politisch – eine völlig andere, aber ungemein bereichernde Leseerfahrung.

Ein Blick nach vorn und ein Rat an dich

Die große Krise war ein Weckruf. Es gab Reformen, externe Experten wurden ins Komitee geholt. Ob das reicht? Die Zukunft wird es zeigen. Die Frage bleibt: Ist eine kleine, nationale Jury für einen globalen Preis noch zeitgemäß? Wahrscheinlich nicht. Aber die Tradition ist stark.

Als jemand, der sein Leben den Büchern gewidmet hat, möchte ich dir einen Rat geben: Sieh den Preis als das, was er ist – die sehr einflussreiche Meinung von 18 Menschen in Stockholm. Nutze die jährliche Verleihung als Sprungbrett, um Neues zu entdecken. Lies die Preisträger, aber lies auch die, die übergangen wurden. Bild dir dein eigenes Urteil.

Deine Nobelpreis-Challenge: Lies dieses Jahr ein Buch von einem Preisträger UND eines von einem der „ewigen Kandidaten“. Wer hat dich mehr überzeugt? Die offizielle Wahl oder der Geheimtipp? Die Literatur ist so viel größer und vielfältiger als jeder Preis, der in ihrem Namen vergeben wird. Viel Spaß beim Entdecken!

Michael von Adelhard

Michael von Adelhard ist 31 Jahre alt. Er arbeitet seit vielen Jahren als Journalist für einige der erfolgreichsten Nachrichten-Portale Deutschlands. Autor vieler Bücher und wissenschaftlicher Publikationen zum Thema «Einfluss sozialer Medien auf Jugendliche«. Schreibt über Themen wie Lifestyle, Umweltschutz, sowie Tech and Gadgets. In seiner Freizeit ist er häufig mit dem Fahrrad unterwegs – so schöpft er Inspiration für seine neuen Artikel.