Netflix kann einpacken: Warum dein lokales Kino überlebt (und wie du dabei helfen kannst)

Die Oscars im Streaming-Zeitalter? Die Academy bricht mit Traditionen und öffnet neue Türen für digitale Meisterwerke.

von Michael von Adelhard

Seit über 30 Jahren stehe ich in meinem Kino. Ich kenne dieses leise Knistern der Popcorntüte, dieses erwartungsvolle Schweigen, wenn das Licht ausgeht. Und ich kenne das tiefe Brummen des Subwoofers, das man mehr im Bauch fühlt als mit den Ohren hört. Das Kino ist mein Leben, mein Handwerk. Und ganz ehrlich: Dieses Handwerk steckt gerade im größten Umbruch, den ich je erlebt habe.

Klar, man hört und liest zurzeit viel über Streaming-Dienste, die mit Filmen die großen Preise abräumen, und über die riesigen Summen, die für Werbekampagnen ausgegeben werden. Aber diese Schlagzeilen kratzen nur an der Oberfläche. Sie erklären nicht, was das wirklich für uns bedeutet – für die Kinos in den Städten und auf dem Land, für die deutschen Filmemacher und vor allem für dich, den Zuschauer.

Keine Sorge, das hier wird keine Panikmache. Ich möchte dir einfach mal ehrlich erklären, was gerade passiert. Als Meister für Veranstaltungstechnik und als jemand, der jeden Tag die Türen zu seinem Kino aufschließt. Wir schauen uns die Technik, das Geld und die Seele des Films an. Damit du verstehst, warum das Kino eine Zukunft hat. Wenn wir es alle zusammen richtig anstellen.

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Das alte Versprechen: Warum das „Kinofenster“ mal heilig war

Früher war die Welt irgendwie einfacher. Ein Film kam ins Kino. Punkt. Nur ins Kino. Dieses ungeschriebene Gesetz nannte man das „Auswertungsfenster“. In Deutschland hieß das in der Regel: Ein Film durfte erst nach drei bis sechs Monaten im Fernsehen laufen oder auf einer Disc erscheinen. Meistens waren es sogar volle sechs Monate, die vertraglich zwischen dem Verleiher und uns Kinobetreibern festgelegt wurden.

Dieses Fenster war unsere Lebensgrundlage. Es gab den Leuten einen echten Grund, von der Couch aufzustehen. Sie kamen zu uns, um eine Geschichte zum allerersten Mal zu erleben. Gemeinsam mit anderen. Auf einer riesigen Leinwand. Mit einem Ton, der dich komplett einhüllt. Dieses exklusive Erlebnis war unser Produkt. Die Einnahmen aus den Tickets – die so zwischen 9 und 15 Euro kosten – und dem Verkauf von Popcorn und Getränken haben meine Mitarbeiter, die Miete und die sündhaft teure Technik bezahlt.

Streaming-Dienste und Oscars

Auch die Filmverleiher haben dieses Fenster geschützt, denn ein erfolgreicher Kinostart war die beste Werbung für alles, was danach kam. Ein Film, der im Kino brummte, verkaufte sich später auch besser. Die Einnahmen waren klar aufgeteilt: Wir als Kino bekamen einen Teil, der Rest, die sogenannte Verleihmiete, ging an den Verleih. Oft lag die anfangs bei über 50 Prozent. Heißt im Klartext: Von einer 10-Euro-Karte blieben uns zu Beginn weniger als 5 Euro, wovon wir noch alles andere bezahlen mussten.

Dieses System hatte eine klare Ordnung und erlaubte es auch Programmkinos wie meinem, besondere Filme zu zeigen. Filme, die Zeit brauchen, um ihr Publikum zu finden. Manchmal haben wir so einen Film wochenlang im Programm gelassen, einfach weil sich seine Qualität langsam herumsprach. Das funktioniert aber nur, wenn der Film nicht gleichzeitig schon zu Hause auf dem Fernseher läuft.

Der große Bruch: Als die Leinwände plötzlich dunkel wurden

Und dann kam eine globale Gesundheitskrise, die uns alle zu Hause festnagelte. Über Nacht mussten wir schließen. Monatelang. Ein Schock für die ganze Branche. Plötzlich war das Kinofenster keine sichere Bank mehr, sondern eine zugemauerte Wand. Die Filmstudios saßen auf fertigen Filmen, die Millionen gekostet hatten, und die Streaming-Dienste witterten ihre große Chance.

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Filme, die für die große Leinwand gemacht waren, erschienen plötzlich direkt bei den großen Streaming-Anbietern. Die Akademien für die Filmpreise mussten reagieren; die alte Regel, dass ein Film für eine Nominierung eine gewisse Zeit in einem Kino gelaufen sein muss, war nicht mehr haltbar. Also wurde sie gelockert. Das war keine Verschwörung gegen das Kino, sondern eine Notlösung in einer beispiellosen Situation.

Doch diese Notlösung hat eine Tür aufgestoßen, die sich nicht mehr so leicht schließen lässt. Sie hat einen Prozess beschleunigt, der schon lange schwelte. Die Streaming-Dienste waren ja schon vorher da, mit ihren schier unendlichen Budgets. Die investieren pro Jahr mehr Geld in Inhalte als die gesamte deutsche Filmförderung in einem Jahrzehnt. Das sind völlig andere Dimensionen.

Ihr Geschäftsmodell ist auch grundverschieden. Ein Streaming-Dienst verkauft ein Abo für vielleicht 15 Euro im Monat. Er muss nicht mit jedem einzelnen Film direkt Geld verdienen. Ein Film kann auch dann ein Erfolg sein, wenn er nur dazu dient, neue Abonnenten zu ködern oder alte zu halten. Wir im Kino müssen mit jeder Vorstellung, mit jedem Ticket unsere Kosten decken. Das ist ein ganz anderer Druck.

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Was das Kino wirklich kann: Ein ehrlicher Blick ins Handwerk

Oft höre ich den Satz: „Ach, ich hab doch zu Hause einen großen Fernseher und eine gute Soundbar.“ Und ich verstehe den Gedanken. Aber aus der Sicht eines Technik-Meisters ist der Unterschied gewaltig. Es geht nicht nur um die Größe. Es geht um Standards, um Präzision und um eine Erfahrung, die du zu Hause beim besten Willen nicht nachbauen kannst.

Das Bild: Mehr als nur Pixel

Wenn wir einen Film im Kino zeigen, halten wir uns an den DCI-Standard, eine Norm, die von den großen Studios festgelegt wurde. Entscheidend ist dabei der Farbraum. Im Kino arbeiten wir mit dem „DCI-P3“-Farbraum, der deutlich mehr und intensivere Farben darstellen kann als der Standard, den die meisten Monitore und Fernseher zu Hause nutzen. Wenn die Profis im Schneideraum die Farben eines Films festlegen, dann tun sie das für diesen Kino-Farbraum. Nur hier siehst du den Film also genau so, wie er gedacht war. Die Farben auf deinem Fernseher sind immer nur eine Annäherung, eine Art Übersetzung.

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Und dazu kommt die Kalibrierung. Wir messen regelmäßig das Licht an neun Punkten der Leinwand, um sicherzustellen, dass alles den Normen entspricht. Das macht zu Hause niemand.

Der Ton: Ein unsichtbarer Hauptdarsteller

Noch krasser ist der Unterschied beim Ton. Eine Soundbar versucht, Raumklang zu simulieren. Ein echtes Kino-Soundsystem erschafft ihn. Moderne Kinos nutzen objektbasiertes Audio. Das bedeutet, ein Geräusch – sagen wir, ein Hubschrauber – ist nicht mehr einem Lautsprecher zugewiesen. Der Tontechniker platziert es als Objekt frei im Raum. Das System im Saal berechnet dann in Echtzeit, welche der bis zu 64 Lautsprecher (auch an der Decke!) angesteuert werden müssen, um den Hubschrauber über deine Köpfe fliegen zu lassen. Das ist eine dreidimensionale Klangwolke, die dich mitten in den Film zieht.

Das funktioniert auch nur, weil der Raum akustisch optimiert ist – mit schallschluckenden Stoffen an den Wänden und Teppichboden. Eine Wissenschaft für sich.

Kleiner Tipp: Filme, die du im Kino sehen musst

Um das greifbar zu machen: Denk an einen bildgewaltigen Science-Fiction-Epos, der auf einem Wüstenplaneten spielt. Jedes Sandkorn, jede Textur der riesigen Raumschiffe – das entfaltet seine volle Wucht nur auf einer riesigen, perfekt ausgeleuchteten Leinwand. Oder denk an einen Film, der in der Stille des Weltalls spielt, wo jedes leise Knacken und jeder Atemzug über den dreidimensionalen Sound eine unglaubliche Spannung aufbaut. Und natürlich jeder große Animationsfilm, dessen Farbwelten im Kino erst so richtig leuchten. Das kann dein Wohnzimmer einfach nicht leisten.

der offizielle poster zu dem film roma von dem regisseur alfonso cuaron, ein schwarz weißes bild mit kindern am strand und meer

Ach ja, und wie kommt der Film eigentlich zu uns?

Wenig bekannter Trick: Filme kommen heute nicht mehr auf Filmrollen, sondern als „Digital Cinema Package“ (DCP). Das ist im Grunde eine spezielle, hochverschlüsselte Festplatte. Wir bekommen diese Festplatte per Kurier, laden die Daten auf unseren Kinoserver – das sind oft 200 bis 400 Gigabyte pro Film – und erhalten dann per E-Mail einen digitalen Schlüssel (KDM), der es uns erlaubt, den Film für einen genau festgelegten Zeitraum abzuspielen. Ziemlich cool, oder?

Multiplex vs. Programmkino: Wo schlägt dein Filmherz?

Wenn wir über „das Kino“ sprechen, müssen wir unterscheiden. Ein riesiger Multiplex-Palast in einer Großstadt funktioniert völlig anders als mein Programmkino.

  • Das Multiplex: Hier geht es um die großen Blockbuster. Das Geschäft ist auf hohe Besucherzahlen und den Verkauf von Popcorn, Nachos und riesigen Getränken ausgelegt. Du gehst hin für das große Spektakel, den neuesten Superhelden-Film, und weißt genau, was dich erwartet. Das ist absolut legitim und hat seine Berechtigung.
  • Das Programmkino (oder Arthouse-Kino): Wir sind oft die Kulturvermittler. Bei uns findest du europäische Filme, besondere Dokumentationen oder deutsche Produktionen, die im Multiplex vielleicht untergehen würden. Unsere Zuschauer sind oft Stammgäste, die unserer Auswahl vertrauen. Sie kommen nicht nur für einen Film, sondern für das Erlebnis und die besondere Atmosphäre.
  • Dein Heimkino: Bequem, keine Frage. Du kannst auf Pause drücken, wann du willst. Aber ehrlich gesagt, die Ablenkung ist riesig. Das Handy klingelt, man holt sich schnell was zu trinken, die Magie verfliegt. Das Gemeinschaftserlebnis, das gemeinsame Lachen oder Erschrecken mit Fremden, fehlt komplett.

Die Zukunft gestalten: Mehr als nur Filme zeigen

Wir können nicht nur jammern, wir müssen die Ärmel hochkrempeln. Ich sehe da ein paar klare Wege.

Erstens: Das Kino muss zum Event-Ort werden. Wir müssen mehr bieten als nur den Film. Das können Filmgespräche sein, Themenabende oder besondere Reihen. Ich habe zum Beispiel mal einen Dokumentarfilm über Imker gezeigt und mit dem örtlichen Imkerverein eine Honigverkostung im Foyer veranstaltet. Das Kino wird so zum Treffpunkt.

Andere Ideen, die super ankommen: Stummfilmabende mit Live-Klavierbegleitung, ein „Film & Wein“-Abend mit dem Weinhändler von nebenan oder eine kultige Trash-Film-Nacht, bei der das Publikum mitmacht. Es geht darum, einzigartige Abende zu schaffen.

Zweitens: Spezialisierung. Nicht jedes Kino muss alles können. Vielleicht gibt es bald mehr Kinos, die sich auf Originalversionen, auf Horror, auf Dokus oder auf Familienfilme spezialisieren. Indem wir ein klares Profil entwickeln, werden wir für eine bestimmte Zielgruppe unverzichtbar.

Und drittens, vielleicht müssen wir sogar lernen, mit den Streaming-Diensten zu tanzen. Was wäre, wenn ein Film exklusiv vier Wochen im Kino läuft, bevor er online geht? Dieser kurze Zeitraum würde uns eine Chance geben und dem Film gleichzeitig das Prestige eines echten Kinostarts verleihen.

Ein ehrliches Wort zum Schluss: Leidenschaft, Flops und dein Beitrag

Ich will ehrlich sein: Ein Kino zu betreiben, war schon immer ein hartes Geschäft. Die Margen sind winzig. Die Kosten für Energie und Personal steigen. Allein die Digitalisierung war ein Kraftakt.

Gut zu wissen: Ein moderner 4K-Laserprojektor mit dem passenden Server kann locker zwischen 50.000 und 80.000 Euro kosten. Das ist eine gigantische Investition für ein kleines Kino, die sich über Jahre rechnen muss.

Man braucht Leidenschaft, aber auch einen verdammt guten Geschäftsplan. Und man erlebt Rückschläge. Ich erinnere mich an einen fantastischen Dokumentarfilm, für den ich wochenlang die Werbetrommel gerührt habe. Ich war so überzeugt davon! Und dann saßen an der Premiere genau drei zahlende Gäste im Saal. Autsch. Das gehört dazu und erdet einen ungemein.

So, und was kannst DU jetzt tun?

Nach all dem Gerede fragst du dich vielleicht, wie du helfen kannst. Ehrlich gesagt, eine ganze Menge! Es sind oft die kleinen Dinge, die einen riesigen Unterschied machen:

  1. Kauf deine Tickets online im Voraus. Das gibt uns Planungssicherheit und hilft uns, Personal besser einzuteilen.
  2. Gönn dir Popcorn & Co. Klingt banal, aber an einem Popcorn-Menü für 8 Euro verdienen wir prozentual deutlich mehr als am reinen Ticket. Das subventioniert quasi die anspruchsvollen Filme.
  3. Verschenk Kinogutscheine. Das beste Geschenk für jeden Anlass und du machst gleichzeitig Werbung für uns.
  4. Werde Mitglied im Förderverein. Viele Programmkinos haben Fördervereine. Oft kannst du schon für 50 Euro im Jahr Mitglied werden, erhältst Vergünstigungen und unterstützt direkt die Kultur vor Ort.
  5. Probier mal die „Kein-Handy-Challenge“: Wenn du das nächste Mal bei uns bist, schalte dein Handy nicht nur auf lautlos, sondern ganz aus. Lass dich zwei Stunden komplett auf den Film ein. Du wirst überrascht sein, wie intensiv das Erlebnis ist.

Die Welt verändert sich, ja. Aber das Kino hat schon das Fernsehen, die Videokassette und die DVD überlebt. Es wird auch das Streaming überleben. Aber es wird sich wandeln müssen – spezieller, wertvoller und gemeinschaftlicher werden. Solange es Menschen gibt, die Geschichten lieben und sie mit anderen teilen wollen, wird es einen Ort dafür geben. Diesen dunklen Raum mit der hellen Leinwand. Daran glaube ich. Und dafür kämpfe ich jeden Tag.

Michael von Adelhard

Michael von Adelhard ist 31 Jahre alt. Er arbeitet seit vielen Jahren als Journalist für einige der erfolgreichsten Nachrichten-Portale Deutschlands. Autor vieler Bücher und wissenschaftlicher Publikationen zum Thema «Einfluss sozialer Medien auf Jugendliche«. Schreibt über Themen wie Lifestyle, Umweltschutz, sowie Tech and Gadgets. In seiner Freizeit ist er häufig mit dem Fahrrad unterwegs – so schöpft er Inspiration für seine neuen Artikel.