Blutwasserfall der Antarktis: Das 100 Jahre alte Rätsel gelöst

von Amandine Hach
blutwasserfall der antarktis das 100 jahre alte rytsel gelyst

Stellen Sie sich eine Stille vor, die so tief ist, dass Sie Ihren eigenen Herzschlag hören. Eine Kälte, die bei jedem Atemzug in der Lunge brennt. Und vor Ihnen eine Landschaft, so fremdartig und unberührt, dass sie von einem anderen Planeten stammen könnte: die endlosen, weißen Taylor-Trockentäler in der Antarktis. Als ich das erste Mal dort stand, fühlte ich mich unendlich klein. Und dann sah ich ihn – ein Anblick, der sich ins Gedächtnis brennt. Wie eine Wunde im makellosen Eis des Taylor-Gletschers ergießt sich ein tiefroter Strom in den zugefrorenen Bonneysee. Das ist der Blutwasserfall, eines der bizarrsten und faszinierendsten Naturphänomene unseres Planeten, das Wissenschaftler und Abenteurer über ein Jahrhundert lang in Atem hielt.

Das Rätsel im Eis: Eine Entdeckung, die Fragen aufwarf

Als der australische Geologe Thomas Griffith Taylor 1911 während der britischen „Terra Nova“-Expedition auf diesen blutroten Strom stieß, war die Verwirrung groß. Inmitten dieser lebensfeindlichen, gefrorenen Welt schien der Gletscher zu bluten. Die erste, naheliegende Vermutung war, dass rote Algen das Wasser färben. Eine logische Hypothese, die sich jedoch als falsch herausstellen sollte. Jahrzehntelang blieb das Phänomen ein ungelöstes Rätsel. Warum ist das Wasser rot? Und, vielleicht noch erstaunlicher: Warum gefriert dieser Wasserfall nicht bei Dauertemperaturen weit unter dem Gefrierpunkt?

Erst in den 1960er Jahren fand man heraus, dass ein extrem hoher Eisengehalt für die Farbe verantwortlich ist. Doch die Quelle des Wassers und der Grund für seinen stetigen Fluss blieben im Verborgenen. Ich kann die Faszination der frühen Entdecker gut nachvollziehen. Selbst mit dem Wissen von heute wirkt der Anblick surreal. Die rote Farbe ist so intensiv, so organisch, dass man unwillkürlich an Leben denkt – ein Gedanke, der sich später als unheimlich zutreffend erweisen sollte.

Moderne Technik löst das Geheimnis

blutwasserfall der antarktis das 100 jahre alte rytsel gelyst 2

Der technologische Fortschritt brachte schließlich Licht ins Dunkel. Forscherteams, unter anderem von der Johns Hopkins University, nutzten moderne Analysemethoden, um Wasserproben zu untersuchen. Was sie entdeckten, war verblüffend: Die rote Farbe stammt nicht von gelöstem Eisen, sondern von winzigen, eisenhaltigen Nanopartikeln. Diese Partikel sind hundertmal kleiner als ein menschliches rotes Blutkörperchen und werden erst rot, wenn sie nach Millionen von Jahren im Dunkeln mit dem Sauerstoff der Atmosphäre in Kontakt kommen. Es ist im Grunde ein extrem beschleunigter Rostprozess, der dem Wasser seine dramatische, blutähnliche Farbe verleiht.

Aber was ist mit dem Fließen bei bis zu -19 °C? Mithilfe von Radartechnologie entdeckten Forscher der University of Alaska, dass das Wasser eine extrem hohe Salzkonzentration aufweist – etwa doppelt so hoch wie die von Meerwasser. Dieser hohe Salzgehalt senkt den Gefrierpunkt drastisch. Zusätzlich entsteht beim Gefrieren von Wasser Wärme (latente Wärme), die das umliegende Eis leicht erwärmt und so den salzigen Strom flüssig hält. Der Taylor-Gletscher ist damit der kälteste bekannte Gletscher der Welt, aus dem konstant flüssiges Wasser fließt.

Eine Zeitkapsel unter dem Gletscher

blutwasserfall der antarktis das 100 jahre alte rytsel gelyst 3

Die Quelle dieses seltsamen Wassers ist vielleicht der faszinierendste Teil der Geschichte. Der Blutwasserfall wird von einem See gespeist, der vor etwa 1,5 Millionen Jahren unter dem vorrückenden Taylor-Gletscher eingeschlossen wurde. Dieses subglaziale Gewässer ist eine perfekte Zeitkapsel, isoliert von Licht und Luft. Und in dieser ewigen Dunkelheit existiert Leben. Wissenschaftler fanden eine Kolonie von mindestens 17 verschiedenen Mikroorganismen, die ohne Photosynthese überleben. Stattdessen gewinnen sie ihre Energie aus chemischen Reaktionen mit Schwefel und Eisen – ein Prozess, der als Chemosynthese bekannt ist.

Neuere Forschungen mit einem per Helikopter transportierten elektromagnetischen Sensor enthüllten ein ganzes Netzwerk aus unterirdischen, salzigen Flüssen und Seen, das sich kilometerweit unter dem Eis erstreckt. Man steht also nicht nur vor einem Wasserfall, sondern vor dem sichtbaren Ende eines riesigen, verborgenen Ökosystems. Diese Entdeckung ist für die Astrobiologie von unschätzbarem Wert. Die Bedingungen unter dem Taylor-Gletscher ähneln denen, die auf dem Mars oder dem Jupitermond Europa vermutet werden. Der Blutwasserfall ist der lebende Beweis, dass Leben auch an den unwirtlichsten Orten existieren kann.

Den Blutwasserfall selbst erleben: Ein Traum für Entdecker

Nach all der Wissenschaft stellt sich natürlich die Frage: Kann man diesen Ort besuchen? Die ehrliche Antwort ist: Ja, aber es ist eine der exklusivsten und anspruchsvollsten Reisen der Welt. Die McMurdo Dry Valleys sind extrem geschützt und entlegen. Es gibt keine Hotels, keine Wanderwege, keine touristische Infrastruktur.

Der „einfachste“ Weg führt über eine Antarktis-Expeditionskreuzfahrt, die speziell Helikopter-Exkursionen ins Rossmeer und in die Trockentäler anbietet. Diese Reisen gehören zur absoluten Oberklasse der Expeditionsreisen. Rechnen Sie hier mit Kosten, die selten unter 30.000 € pro Person liegen und oft weit darüber hinausgehen. Die Flüge von Deutschland nach Neuseeland oder Australien, dem typischen Startpunkt, kommen noch hinzu. Eine Alternative ist ein Flug mit speziellen Anbietern von Chile zur Union-Glacier-Basis und von dort weiter per Kleinflugzeug, was aber logistisch noch aufwendiger und nicht günstiger ist.

Ich hatte das Privileg, im Rahmen einer solchen Helikopter-Exkursion dort zu sein. Man wird in einer kleinen Gruppe geflogen und landet in respektvollem Abstand. Die Regeln sind extrem streng: Man darf nichts zurücklassen und nichts berühren. Der Anblick entschädigt für jede Mühe. Die Stille, die Weite und die pure, rohe Kraft der Natur sind überwältigend. Mein Tipp: Wenn Sie jemals die Chance haben, tun Sie es. Es ist kein Urlaub, es ist eine Expedition zum Ursprung des Lebens und an die Grenzen der Vorstellungskraft. Es verändert die Perspektive auf unseren eigenen Planeten für immer.

Amandine Hach

Als Französin in Berlin verbindet Amandine Hach das Beste aus zwei Welten und teilt ihre Entdeckungen auf ihrem Blog „Les Berlinettes“. Mit einem besonderen Fokus auf das Reisen mit Kindern inspiriert sie Familien dazu, die Welt gemeinsam zu erkunden – sei es die eigene Nachbarschaft in der Hauptstadt oder ferne Ziele. Amandine zeigt auf authentische und stilvolle Weise, wie man Abenteuerlust und Familienalltag wunderbar miteinander vereinen kann, und gibt wertvolle Tipps für unvergessliche Erlebnisse mit den Kleinsten.