Gran Adria: Der versunkene Kontinent unter Europa entdeckt

von Anette Hoffmann
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Die Landkarte Europas, wie wir sie kennen, ist nur die halbe Wahrheit. Unter den beliebten Urlaubszielen Italiens, den majestätischen Gipfeln der Alpen und der zerklüfteten Küste des Balkans verbirgt sich eine geologische Narbe von kontinentalem Ausmaß. Wissenschaftler haben nun das Puzzle zusammengesetzt und die Geschichte eines verlorenen, achten Kontinents Europas aufgedeckt: Gran Adria, eine Landmasse von der Größe Grönlands, die vor rund 140 Millionen Jahren mit unserem Kontinent kollidierte und in den Erdmantel gedrückt wurde.

Diese Entdeckung ist mehr als nur eine geologische Kuriosität; sie schreibt die Urgeschichte Südeuropas neu. Was Forscher unter der Leitung von Douwe van Hinsbergen, Professor für globale Tektonik an der Universität Utrecht, aufgedeckt haben, ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen, detektivischen Forschungsarbeit. Sie enthüllt, dass die Kollision zweier Kontinente kein plötzlicher Crash war, sondern ein langsamer, gewaltiger Prozess, der die Landschaft Europas für immer formte.

Das Puzzle der Gebirgsketten

Der Schlüssel zum Verständnis dieses untergegangenen Kontinents liegt nicht in den Tiefen des Meeres, sondern hoch oben in den Gebirgen. „Die meisten Gebirgsketten, die wir untersucht haben, stammen von einem einzigen Kontinent, der sich vor über 200 Millionen Jahren von Nordafrika abgespalten hat“, erklärt van Hinsbergen. Sein Team von der Universität Utrecht, in Zusammenarbeit mit Forschern aus Oslo und der ETH Zürich, analysierte Gesteinsformationen von Spanien bis in den Iran. Mithilfe spezieller Software rekonstruierten sie die Bewegungen der tektonischen Platten und spulten die Zeit um 240 Millionen Jahre zurück.

Ihre Arbeit enthüllte die Existenz von Gran Adria, das einst Teil des Superkontinents Gondwana war, zu dem auch das heutige Afrika, Südamerika, Australien und die Antarktis gehörten. Als sich dieser Superkontinent aufspaltete, machte sich Gran Adria auf eine lange Reise nach Norden. Für Dutzende Millionen Jahre existierte es als eigenständiger Mikrokontinent, größtenteils bedeckt von einem warmen, flachen Meer, in dem sich Sedimente ablagerten, die später zu Kalkstein wurden. Diese Gesteine sind heute die stillen Zeugen seiner Existenz.

Die große Kollision und das langsame Verschwinden

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Vor etwa 120 bis 100 Millionen Jahren endete die Reise von Gran Adria abrupt. Es traf auf die eurasische tektonische Platte – das heutige Europa. Doch statt eines frontalen Zusammenstoßes begann ein Prozess, den Geologen als Subduktion bezeichnen: Gran Adria wurde unter Europa geschoben und tauchte langsam in den darunter liegenden, zähflüssigen Erdmantel ab.

Dieser Prozess war jedoch nicht sauber. Wie ein riesiger Spachtel schabte die europäische Platte die obersten Gesteinsschichten von Gran Adria ab. Diese abgetragenen Schichten wurden gefaltet, zerbrochen und nach oben gedrückt, wodurch die Gebirgsketten entstanden, die wir heute kennen. „Die deformierten Überreste der obersten Kilometer des verlorenen Kontinents sind noch heute in den Gebirgsketten zu sehen“, so van Hinsbergen. Die berühmten Kalksteinformationen der Alpen, die Apenninen in Italien, die Gebirge des Balkans, Griechenlands und der Türkei – sie alle sind im Wesentlichen die Überreste von Gran Adria. Wenn Touristen heute in den Dolomiten wandern, laufen sie auf dem zerknitterten Meeresboden eines versunkenen Kontinents.

Der weitaus größere Teil der Landmasse, eine etwa 100 Kilometer dicke Kontinentalplatte, setzte seine Reise in die Tiefe fort. „Wir können sie immer noch mit seismischen Wellen verfolgen, bis in eine Tiefe von 1.500 Kilometern“, fügt der Experte hinzu. Dort unten, im „Friedhof der Platten“, liegt der Großteil von Gran Adria begraben und wird langsam vom Erdmantel recycelt.

Was die Entdeckung für uns bedeutet

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Die Rekonstruktion von Gran Adria ist ein Meilenstein für die Geowissenschaften. Sie liefert erstmals ein einheitliches Modell für die extrem komplexe Geologie des Mittelmeerraums, einer Region, die durch das Zusammentreffen der afrikanischen, eurasischen und anatolischen Platten geprägt ist. Dieses Wissen hat weitreichende Implikationen.

Zum einen hilft es, die Verteilung von Bodenschätzen besser zu verstehen. Die geologischen Prozesse, die Gebirge schaffen, konzentrieren auch Erze und Mineralien. Das Wissen um die genaue Position und Zusammensetzung der subduzierten Platte könnte langfristig die Suche nach Lagerstätten erleichtern.

Noch wichtiger ist jedoch die Verbindung zur seismischen Aktivität. Die Region, unter der Gran Adria versunken ist, gehört zu den erdbebengefährdetsten Zonen Europas. Die Spannungen, die durch die fortwährende Bewegung der Platten in dieser komplexen unterirdischen Struktur entstehen, sind die Ursache für die Erdbeben in Italien, Griechenland und der Türkei. Ein präziseres Bild der unterirdischen Architektur ermöglicht bessere Modelle zur Risikobewertung und kann helfen, die Kräfte, die unsere Welt formen und bedrohen, besser zu verstehen.

Die Entdeckung von Gran Adria zeigt eindrücklich, dass die Oberfläche unseres Planeten nur eine Momentaufnahme in einem dynamischen, Jahrmillionen andauernden Prozess ist. Unter unseren Füßen verbirgt sich eine Geschichte von wandernden Kontinenten, gewaltigen Kollisionen und versunkenen Welten, deren Erbe bis heute in den Landschaften sichtbar ist, die wir Heimat nennen.

Anette Hoffmann

Annette Hoffmans erstaunliche Medienkarriere spiegelt ihr pures Engagement für den Journalismus und das Publizieren wider. Ihre Reise begann 2010 als freiberufliche Journalistin bei Vanity Fair, wo sie ihre einzigartige kreative Perspektive einbringt.