Türkei: 10.000 Jahre alter Fund könnte Geschichte umschreiben

von Carra Hilde
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Ein kleines Steingefäß, kaum größer als eine Handfläche, birgt ein potenzielles Beben für die Geschichtsschreibung. Gefunden in der prähistorischen Siedlung Karahantepe im Südosten der Türkei, enthält es eine sorgfältig arrangierte Szene: drei winzige, meisterhaft geschnitzte Tierfiguren. Ihr Alter: mindestens 10.000 Jahre. Der türkische Archäologe Necmi Karul, Leiter der Ausgrabungen, ist überzeugt, hier nicht nur auf Kunst gestoßen zu sein, sondern auf die älteste bekannte Erzählung der Menschheit – einen direkten Vorläufer der Schrift.

Der Fund, der bereits im vergangenen Jahr gemacht, aber erst kürzlich der Öffentlichkeit präsentiert wurde, stellt eine etablierte Vorstellung auf den Kopf: die Idee, dass komplexe Symbolik und narrative Kunst erst nach der Entwicklung von Ackerbau und Sesshaftigkeit entstanden. Karahantepe, zusammen mit seiner weltberühmten Schwesterstätte Göbekli Tepe, beweist das Gegenteil. Hier schufen Jäger und Sammler monumentale Architektur und tiefgründige Kunst, lange bevor sie den ersten Weizen anbauten.

In dem Steingefäß befanden sich die nur 3,5 Zentimeter großen Figuren eines Wildschweins, eines Geiers und eines Fuchses. „Trotz ihrer geringen Größe sind sie sehr gut gearbeitet, mit klaren anatomischen Details“, beschreibt Karul die Handwerkskunst. Doch die wahre Bedeutung liegt in ihrer Anordnung. Sie waren Teil einer bewussten Komposition, zusammen mit roter Erde und drei runden, durchbohrten Steinen, in die jeweils ein Tierkopf passte. Das gesamte Ensemble wurde in einem größeren Steingefäß platziert und rituell in einer der Hütten begraben, die das Zentralgebäude von Karahantepe umgaben.

„Das erzählt eine Geschichte. Es ist ein kollektives Gedächtnis“, erklärt Karul mit Nachdruck. „Diejenigen, die es sahen, kannten die Geschichte dahinter.“ Für uns heute ist der Code schwer zu knacken, doch der Archäologe wagt eine Interpretation: Der Steinring könnte eine Schwelle symbolisieren, einen Übergang von einem Raum – oder einer Welt – in eine andere. Die Tiere selbst sind keine zufällige Wahl; sie sind wiederkehrende, zentrale Motive in der reichen Symbolwelt dieser Kultur. Der Fuchs steht oft für List, der Geier für den Tod und den Übergang ins Jenseits, das Wildschwein für Kraft und Gefahr.

Ein Paradigmenwechsel für die Frühgeschichte

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Dieser Fund ist mehr als nur ein faszinierendes Einzelstück. Er ist ein weiterer, entscheidender Puzzlestein in einem Bild, das unser Verständnis der neolithischen Revolution fundamental verändert. Jahrzehntelang ging die Forschung davon aus, dass die Sesshaftwerdung und der Ackerbau die Voraussetzung für komplexe Gesellschaften, Religion und Kunst waren. Doch die Funde in der Region Şanlıurfa, zu denen ein Dutzend Stätten des sogenannten „Taş Tepeler“-Projekts (Steinberge) gehören, zeichnen ein anderes Bild. Hier scheint eine hochentwickelte spirituelle und soziale Welt der Motor für die Sesshaftwerdung gewesen zu sein, nicht deren Folge.

Diese Erkenntnis wurde maßgeblich durch die Arbeit des deutschen Archäologen Klaus Schmidt vorangetrieben, der die Bedeutung von Göbekli Tepe erkannte und die Ausgrabungen dort bis zu seinem Tod 2014 leitete. Karahantepe, nur 45 Kilometer entfernt, setzt diese revolutionäre Geschichte fort. Karul korrigiert die weit verbreitete Annahme, dass diese Orte reine „Tempel“ waren. In Karahantepe lässt sich eine dauerhafte Siedlung mit 15 bis 20 Wohnbauten nachweisen, die um ein monumentales Zentralgebäude mit 28 Metern Durchmesser angeordnet waren. Dieses Gebäude, gefüllt mit T-förmigen Obelisken und Tierskulpturen, war wohl kein reines Heiligtum.

„Ich weigere mich, es ‚Tempel‘ zu nennen“, so Karul. „Es war zweifellos multifunktional.“ Er stellt sich einen Ort für verschiedene gesellschaftliche Zusammenkünfte vor, vielleicht sogar mit Musik, und nicht nur für Rituale. Es war das soziale und kulturelle Herz einer Gemeinschaft, die im Umbruch war – auf dem Weg von mobilen Jägergruppen zu den ersten dauerhaften Dörfern der Welt.

Die erste lesbare Geschichte?

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Die kleine Steinschale aus Karahantepe könnte ein Fenster in die Denkweise dieser Menschen öffnen. „Man kann sagen, dass es sich um einen Vorläufer der Schrift handelt“, meint Karul. „Es ist noch keine Schrift, es sind keine Zeichen, aber es ist ein Vorläufer von Piktogrammen, denn es handelt sich um symbolische Elemente, die in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet sind und eine Geschichte erzählen, die man lesen kann.“

Die wissenschaftliche Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift steht noch aus, doch die Implikationen sind bereits jetzt gewaltig. Die Fähigkeit, eine narrative Sequenz – eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende – durch Symbole darzustellen, ist ein gewaltiger kognitiver Sprung. Es ist die Grundlage für Mythen, Gesetze und letztlich auch für die Schrift. Dass dies bereits vor 10.000 Jahren geschah, verschiebt die Zeitachse der menschlichen intellektuellen Entwicklung erheblich.

Die Bedeutung des Fundes wird dadurch unterstrichen, dass am selben Ort auch einzelne Knochen der dargestellten Tiere gefunden wurden – ein möglicher Hinweis auf rituelle Handlungen, die mit der erzählten Geschichte verbunden waren. Es bleiben viele Fragen offen: Wer war der Protagonist dieser Geschichte? Der Mensch, der sich den Mächten von Wildschwein, Geier und Fuchs gegenübersieht? Wurde die Geschichte bei Initiationsriten oder Begräbnissen erzählt? Und warum wurde dieses wertvolle Objekt so sorgfältig begraben, als wollte man es für die Nachwelt bewahren?

Necmi Karul ist vom universellen Wert des Fundes so überzeugt, dass er ihn für die UNESCO-Liste „Memory of the World“ vorschlagen will. Es wäre die Anerkennung, dass diese kleine Schale nicht nur ein Stück Stein ist, sondern ein Zeugnis vom Anbeginn des menschlichen Bedürfnisses, Geschichten zu erzählen – und damit die Welt zu ordnen und zu verstehen.

Carra Hilde

Carra Hilde ist eine der jungen Autorinnen in unserem Online-Magazin. Aber dafür eine der produktivsten, vor allem bei ihren Lieblingsthemen: Sport, Ernährung und gesundes Leben. Carras Karriere begann als Redaktionsassistentin und Übersetzerin, über eine Tätigkeit als freie Journalistin bei der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 2015 bis hin zur Redakteurin beim Handelsblatt, einer führenden Wirtschafts- und Finanzzeitung.