PIN rückwärts am Geldautomat eingeben: Das passiert wirklich

von Elke Schneider
pin ryckwyrts am geldautomat eingeben das passiert wirklich

Stellen Sie sich die beklemmende Situation vor: Nachts, an einem schlecht beleuchteten Geldautomaten, zwingt Sie jemand, Bargeld abzuheben. In dieser Zwangslage keimt eine fast mythische Hoffnung auf, die seit Jahrzehnten durch das Internet geistert: Man könne die Polizei heimlich alarmieren, indem man seine PIN einfach rückwärts eingibt. Ein stiller Notruf, der den Täter nicht misstrauisch macht, aber Retter auf den Plan ruft. Diese Vorstellung ist so bestechend einfach, dass sie sich hartnäckig in unserem kollektiven Bewusstsein hält. Doch was passiert wirklich, wenn Sie es versuchen? Die Antwort ist ernüchternd und entlarvt eine der langlebigsten urbanen Legenden des digitalen Zeitalters.

Die Theorie, die einst durch Ketten-E-Mails und später über soziale Netzwerke wie Facebook und WhatsApp verbreitet wurde, klingt plausibel: Wenn Ihre PIN beispielsweise 1234 lautet, geben Sie 4321 ein. Das System erkenne den Trick, zahle das Geld zur Besänftigung des Räubers aus, sende aber gleichzeitig ein Notsignal an die nächstgelegene Polizeidienststelle. Doch wer dies im Ernstfall versucht, wird enttäuscht. Statt eines stillen Alarms erscheint lediglich die bekannte Fehlermeldung: „Falsche PIN eingegeben.“ Nach drei Fehlversuchen wird die Karte aus Sicherheitsgründen gesperrt – eine Maßnahme, die in einer Notsituation die Lage sogar noch verschlimmern könnte.

Der Mythos überlebt, weil er eine tiefe menschliche Sehnsucht anspricht: die nach einem verborgenen Sicherheitsnetz, einem cleveren Trick, um in einer hilflosen Lage die Kontrolle zurückzugewinnen. Doch die Realität der globalen Bankeninfrastruktur ist weitaus komplexer und lässt für eine solche Funktion keinen Raum.

Der Traum von der Notfall-PIN: Warum die Idee in der Praxis scheitert

pin ryckwyrts am geldautomat eingeben das passiert wirklich 2

Obwohl die Idee genial erscheint, sprechen gewichtige technische, logische und sicherheitsrelevante Gründe gegen ihre Umsetzung. Banken und Sicherheitsexperten lehnen sie weltweit aus einem Konsens heraus ab.

Eines der banalsten, aber unüberwindbaren Hindernisse ist das Palindrome-Problem. Was passiert bei einer PIN wie 4884 oder 1221, die vorwärts und rückwärts identisch ist? Das System könnte eine reguläre Eingabe nicht von einem Notruf unterscheiden. Allein diese logische Hürde macht eine flächendeckende Einführung unmöglich.

Viel schwerwiegender sind jedoch die praktischen Konsequenzen. Die globale Geldautomaten-Infrastruktur ist ein extrem komplexes Geflecht aus Tausenden von Banken, verschiedenen Software-Generationen und Hardware-Herstellern. Die Standardisierung und Implementierung einer solchen Funktion wäre ein technischer und finanzieller Albtraum. Wer würde die Kosten für die Umrüstung von Millionen von Geldautomaten weltweit tragen? Wer würde die Haftung übernehmen, wenn das System versagt?

Darüber hinaus wäre die Gefahr von Fehlalarmen enorm. Eine einfache Fehleingabe oder ein Zahlendreher aus Nervosität könnte einen Polizeieinsatz auslösen und wertvolle Ressourcen binden. Experten warnen aber vor allem vor einer noch größeren Gefahr: Das System könnte die Sicherheit des Opfers aktiv gefährden. Würde sich die Existenz einer solchen Funktion herumsprechen, könnten Täter ihre Opfer zwingen, die PIN zunächst korrekt einzugeben, oder noch gewalttätiger reagieren, wenn sie einen stillen Alarm vermuten. Statt Schutz zu bieten, würde die Notfall-PIN zu einem unkalkulierbaren Risiko.

Ein Körnchen Wahrheit: Die wahre Geschichte hinter dem Mythos

pin ryckwyrts am geldautomat eingeben das passiert wirklich 3

Wie bei vielen hartnäckigen Legenden steckt auch in dieser ein wahrer Kern. Die Idee ist keine reine Erfindung aus dem Internet, sondern geht auf einen realen Versuch in den USA zurück. Im Jahr 1994 meldete der Anwalt Joseph Zinger aus Chicago ein System namens „SafetyPIN“ zum Patent an. Seine Vision war genau die, die der Mythos beschreibt: ein umgekehrter PIN-Code als stiller Alarm.

Im März 1998 erhielt er tatsächlich das US-Patent mit der Nummer 5.731.575 für seine Erfindung. Zinger investierte, was heute inflationsbereinigt weit über 150.000 Euro wären, in die Vermarktung seiner Idee. Er fand sogar Anklang bei der Politik. In den Bundesstaaten Illinois und Kansas gab es Anfang der 2000er Jahre Gesetzesinitiativen, die Banken zur Einführung eines solchen Systems verpflichten sollten. Die Polizei von New York, New Jersey und Ohio unterstützte den Vorschlag ebenfalls – er schien eine einfache technische Lösung für das grassierende Problem der Straßenkriminalität zu sein.

Doch der Widerstand der Finanzindustrie war massiv. Die Bankenlobby argumentierte mit den bereits genannten Problemen: die enormen Kosten, die technischen Hürden, die Gefahr von Fehlalarmen und vor allem die potenziell erhöhte Gefährdung der Kunden. Am Ende scheiterten die Gesetzesvorhaben, und Zingers Idee wurde nie in die Praxis umgesetzt. Was blieb, war die faszinierende Geschichte, die sich verselbstständigte und zur globalen urbanen Legende wurde – ein Zeugnis einer gut gemeinten Idee, die an der harten Realität zerschellte.

In Deutschland und Europa ist die Haltung der Banken und Behörden eindeutig. Die Deutsche Kreditwirtschaft, der Dachverband der deutschen Banken, warnt regelmäßig vor dem Mythos. Statt auf fiktive Notrufsysteme zu vertrauen, setzen Banken auf bewährte Sicherheitsmaßnahmen: hochauflösende Videoüberwachung, Systeme zur Einfärbung von Banknoten bei einem gewaltsamen Angriff auf den Automaten und vor allem den zentralen Sperr-Notruf 116 116, der rund um die Uhr erreichbar ist, um Karten bei Verlust oder Diebstahl sofort zu sperren.

Die Geschichte des umgekehrten PIN-Codes ist somit mehr als nur eine Falschmeldung. Sie ist eine Fallstudie darüber, wie Technologie-Mythen entstehen und warum sie uns so sehr fesseln. Sie offenbart den Konflikt zwischen einer brillanten, aber simplen Idee und der komplexen, risikobasierten Welt der realen Sicherheitssysteme. Im Ernstfall bleibt daher nur der Rat von Sicherheitsexperten: Leisten Sie keinen Widerstand, geben Sie das Geld heraus und bringen Sie sich in Sicherheit. Ihr Leben ist unendlich mehr wert als der Inhalt eines Geldautomaten.

Elke Schneider

Elke Schneider ist eine vielseitige Sammlerin von Fachkenntnissen. Ihren Weg in den Journalismus begann sie mit einem soliden Fundament aus ihrem Studium an der Universität Dresden. Literatur, Kunstgeschichte und Philologie sind ihre Lieblingsfächer.