Himalaya-Rätsel: Was die höchsten Berge wirklich stützt

Seit einem Jahrhundert dachten wir, das Geheimnis der schwindelerregenden Höhe des Himalaya zu kennen. Eine einfache, fast elegante Theorie erklärte, wie das „Dach der Welt“ dem Himmel so nahekommen konnte. Doch nun, inmitten der stillen Analyse von Seismographen und Computersimulationen, zerbricht dieses alte Fundament. Neue Forschungen enthüllen eine radikal andere Realität tief unter Tibet und werfen ein neues Licht auf die gewaltigen Kräfte, die nicht nur den Himalaya, sondern Gebirge auf der ganzen Welt formen.
Die Entdeckung, die in der geologischen Fachwelt für Aufsehen sorgt, ist so fundamental wie überraschend: Es ist nicht nur eine verdoppelte Erdkruste, die den Himalaya trägt. Stattdessen hat sich ein massiver Keil aus dem viel dichteren und festeren Erdmantel zwischen die kollidierenden Kontinentalplatten geschoben und wirkt dort wie ein unsichtbarer Stützpfeiler. Diese Erkenntnis stellt die Thesen des berühmten Schweizer Geologen Emil Argand, die seit 1924 als Lehrbuchwissen galten, grundlegend in Frage.
Ein neues Fundament für das Dach der Welt

Um die Bedeutung dieses Paradigmenwechsels zu verstehen, muss man rund 50 Millionen Jahre in die Vergangenheit blicken. Damals begann die indische Kontinentalplatte ihre unaufhaltsame Kollision mit der eurasischen Platte. Die Wucht dieses Aufpralls war so immens, dass sie nicht nur die Erdkruste wie eine Ziehharmonika zusammenfaltete und den Himalaya emporhob, sondern auch das tibetische Hochland schuf. Argands Theorie besagte, dass sich die indische Platte einfach unter die eurasische schob und die Kruste so auf eine Dicke von 70 bis 80 Kilometern verdoppelte – eine Art gigantisches, schwimmendes Fundament aus relativ leichtem Gestein.
Doch diese Erklärung hatte immer eine Schwachstelle, die Geologen zunehmend beunruhigte. In diesen Tiefen herrschen Temperaturen und Drücke, bei denen Krustengestein seine Festigkeit verliert. Es sollte sich eher wie zäher Honig verhalten, nicht wie ein starres Fundament, das Tausende Meter hohe Berge tragen kann. „Die alte Theorie konnte nicht erklären, wie eine so heiße und weiche untere Kruste die gewaltige Topographie darüber stützen kann“, erklärt ein an der Studie beteiligter Forscher. Es war ein Rätsel, das sich mit den bisherigen Modellen nicht lösen ließ.
Die Forschergruppe um Pietro Sternai von der Universität Mailand hat nun durch aufwendige Simulationen eine überzeugende Lösung gefunden. Ihre Modelle zeigen, dass während der Kollision Teile des oberen Erdmantels – das Gestein, das direkt unter der Kruste liegt – abgerissen und nach oben zwischen die beiden Krustenschichten gedrückt wurden. Dieser Mantelkeil ist nicht nur kühler, sondern auch mechanisch weitaus widerstandsfähiger. Er fungiert wie ein stählerner Träger in einer Betonkonstruktion und verleiht der gesamten Region die notwendige Stabilität.
Vom Himalaya bis zu den Alpen: Die globalen Folgen

Diese Entdeckung ist weit mehr als eine akademische Korrektur. Sie hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser Verständnis der gefährlichsten geologischen Zonen der Welt. Die Kollisionszone des Himalaya ist eine der seismisch aktivsten Regionen der Erde, in der hunderte Millionen Menschen leben. Ein genaueres Modell der unterirdischen Struktur ist entscheidend für eine bessere Einschätzung von Erdbebenrisiken. Die Verteilung von Spannungen in der Kruste könnte völlig anders sein als bisher angenommen, was die Prognose von zukünftigen Beben maßgeblich beeinflussen könnte.
Die neue Theorie hat in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine intensive Debatte ausgelöst. Während Experten wie Duve van Hinsbergen von der Universität Utrecht die Interpretation als „elegant und plausibel“ bezeichnen, weisen andere auf die Notwendigkeit weiterer Beweise hin. „Es ist eine faszinierende Hypothese, die viele Probleme löst, aber wir müssen sie mit direkten seismischen Daten untermauern“, merkt ein unabhängiger Geophysiker an. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob sich durch gezielte Messungen vor Ort Spuren dieses Mantelkeils finden lassen.
Die Implikationen reichen jedoch über Asien hinaus und haben auch für Europa eine besondere Relevanz. Die Alpen, das Herzstück des europäischen Kontinents, sind ebenfalls das Ergebnis einer Kollision von Kontinentalplatten – in diesem Fall der afrikanischen mit der eurasischen Platte. Geologen in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden die neuen Erkenntnisse aus dem Himalaya genau studieren. Es stellt sich die drängende Frage: Könnte ein ähnlicher, bisher unentdeckter Mechanismus auch die Struktur und Stabilität der Alpen erklären? Die Entdeckung unter dem Dach der Welt könnte uns zwingen, auch die Fundamente unseres eigenen Kontinents neu zu bewerten.