Sachsen-Anhalt: 760-Seelen-Dorf wird NATO-Superstützpunkt

von Elke Schneider
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Inmitten der weiten Ebenen des Elbe-Elster-Landes, wo die Grenzen von Sachsen-Anhalt und Brandenburg verschwimmen, liegt ein Ort, der auf keiner touristischen Landkarte prominent verzeichnet ist: Holzdorf. Mit seinen rund 760 Einwohnern verkörpert das Dorf eine ländliche Beschaulichkeit, die in vielen Teilen Deutschlands selten geworden ist. Doch hinter dieser idyllischen Fassade verbirgt sich ein strategisches Zentrum von nationaler und internationaler Bedeutung. Holzdorf ist die Heimat eines der modernsten Luftwaffenstützpunkte Deutschlands, ein Ort, an dem die geopolitischen Verwerfungen unserer Zeit eine sehr konkrete, lokale Gestalt annehmen.

Dieser Kontrast zwischen dörflichem Leben und hochmoderner Militärtechnologie ist nicht neu, aber er gewinnt in der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ eine völlig neue Dimension. Der Fliegerhorst Holzdorf wird zum Epizentrum einer beispiellosen Aufrüstung – ein Symbol für Deutschlands neue Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Vom Kalten Krieg zur NATO-Speerspitze

Die militärische Geschichte des Standorts ist tief in der deutschen Teilung verwurzelt. 1968 von der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR ausgewählt, entstand hier ein Flugplatz, der als Aushängeschild der sozialistischen Luftstreitkräfte galt. Hier war unter anderem das Jagdgeschwader 1 „Fritz Schmenkel“ stationiert. Nach der Wiedervereinigung 1990 begann für Holzdorf eine radikale Metamorphose. Während viele andere Militärstandorte im Zuge der „Friedensdividende“ geschlossen wurden, übernahm die Bundeswehr das Areal und erkannte dessen strategisches Potenzial.

Nun, über drei Jahrzehnte später, fließt eine Summe in den Ausbau, die die bisherige Entwicklung in den Schatten stellt: Fast eine Milliarde Euro wird investiert, um den Stützpunkt fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu machen. Dies ist keine bloße Modernisierung mehr; es ist die Neuschaffung eines militärischen Nervenzentrums an der NATO-Ostflanke.

Arrow 3 und Chinook: Die neuen Kronjuwelen

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Zwei Projekte stehen im Mittelpunkt dieser Transformation und unterstreichen Holzdorfs zukünftige Bedeutung. Ab 2025 wird hier ein Teil des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 stationiert. Deutschland ist der erste Exportkunde für dieses hochmoderne System, das feindliche Langstreckenraketen in einer Höhe von über 100 Kilometern, also im Weltraum, abfangen kann. Die Entscheidung für Holzdorf als Standort für diese Fähigkeit ist kein Zufall: Von hier aus kann ein Schutzschirm über große Teile Deutschlands und seiner Nachbarländer gespannt werden. Es ist eine direkte Antwort auf neue Bedrohungsszenarien und ein klares Bekenntnis Deutschlands zur kollektiven Verteidigung.

Ab 2027 folgt dann das zweite Schlüsselprojekt: Die Stationierung von 47 der insgesamt 60 für die Bundeswehr beschafften schweren Transporthubschrauber vom Typ Boeing CH-47F Chinook. Diese „fliegenden Lastwagen“ sind das Rückgrat für die schnelle Verlegung von Truppen und Material. Sie sind essenziell für die Einsatzbereitschaft von Verbänden wie der Division Schnelle Kräfte (DSK) und können ebenso bei nationalen Katastrophenlagen, wie den Flutkatastrophen der letzten Jahre, eine entscheidende Rolle spielen. Mit den Chinooks wird Holzdorf zur zentralen Drehscheibe für die Luftbeweglichkeit der deutschen Armee.

Wirtschaftsmotor oder sozialer Sprengstoff?

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Für die strukturschwache Region an der Landesgrenze wirkt die Ankündigung wie ein Konjunkturprogramm von historischem Ausmaß. Mit der Stationierung der Hubschrauber allein sollen rund 700 neue Dienstposten entstehen. Zählt man die zivilen Angestellten und die Bautätigkeiten hinzu, wird die Zahl der Menschen, die direkt oder indirekt vom Stützpunkt leben, die eigentliche Einwohnerzahl des Dorfes um ein Vielfaches übersteigen. Lokale Politiker sprechen von einer „Jahrhundertchance“, um den demografischen Wandel aufzuhalten und Kaufkraft in der Region zu binden.

Doch die Medaille hat zwei Seiten. Wo werden die Soldaten und ihre Familien wohnen? Der Wohnungsmarkt in der Umgebung ist bereits jetzt angespannt. Steigende Mieten und Immobilienpreise könnten für Alteingesessene zum Problem werden. Reicht die Infrastruktur – von Kitaplätzen über Schulen bis hin zur ärztlichen Versorgung – für einen solch rasanten Zuzug aus? Die massive Investition des Bundes stellt die kommunale Planung vor gewaltige Herausforderungen. Der versprochene Segen könnte ohne sorgfältige Steuerung auch zu sozialen Verwerfungen führen.

Das Rauschen der Rotoren im ländlichen Idyll

Die größte Herausforderung dürfte jedoch die zivil-militärische Koexistenz selbst sein. Die Anwohner sind Militärpräsenz gewohnt, doch der Umfang der Erweiterung ist beispiellos. Tiefflüge von Dutzenden schwerer Transporthubschrauber werden die Geräuschkulisse der Region nachhaltig verändern. Die Frage, wie ein Gleichgewicht zwischen den militärischen Notwendigkeiten eines Übungsbetriebs rund um die Uhr und dem Ruhebedürfnis der Bevölkerung gefunden werden kann, ist noch unbeantwortet.

Holzdorf wird so zu einem Labor für die Akzeptanz der „Zeitenwende“ in der deutschen Gesellschaft. Hier zeigt sich, ob die abstrakte Zustimmung zu einer stärkeren Landesverteidigung auch dann noch gilt, wenn sie konkrete, persönliche Auswirkungen hat. Der Erfolg des Projekts wird nicht nur in Milliarden Euro und militärischen Fähigkeiten gemessen werden, sondern auch daran, ob es gelingt, die Menschen vor Ort mitzunehmen.

Das kleine Dorf in Sachsen-Anhalt steht damit an der Schwelle zu einer neuen Ära. Es wird seine Identität neu finden müssen, im Spannungsfeld zwischen Heimat und High-Tech-Festung. Die kommenden Jahre werden zeigen, wie dieser ungewöhnliche Ort seinen Platz in der deutschen Verteidigungslandschaft findet – als ein Mikrokosmos, in dem sich die großen sicherheitspolitischen Entscheidungen Berlins im Alltag der Menschen spiegeln.

Elke Schneider

Elke Schneider ist eine vielseitige Sammlerin von Fachkenntnissen. Ihren Weg in den Journalismus begann sie mit einem soliden Fundament aus ihrem Studium an der Universität Dresden. Literatur, Kunstgeschichte und Philologie sind ihre Lieblingsfächer.