Antarktis: 332 riesige Canyons unter dem Eis entdeckt

Tief unter dem kilometerdicken Eispanzer der Antarktis, in einer kalten und dunklen Welt, die für den Menschen unzugänglich ist, haben Wissenschaftler eine verborgene Landschaft von monumentalem Ausmaß kartiert. Ein internationales Forscherteam, maßgeblich unter der Leitung des deutschen Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und der Universität Durham, hat insgesamt 332 riesige Unterwassercanyons identifiziert, die den Kontinentalschelf durchziehen. Diese Entdeckung, die auf der akribischen Auswertung von Daten aus über 40 Expeditionen beruht, ist weit mehr als nur eine geographische Kuriosität – sie zeichnet ein neues, beunruhigendes Bild von der Stabilität des südlichsten Kontinents und den Mechanismen des globalen Klimawandels.
Die schiere Dimension dieser Strukturen ist kaum vorstellbar. Einige der Canyons sind über 4.000 Meter tief und erstrecken sich über hunderte von Kilometern. Sie bilden ein komplexes Netzwerk aus submarinen Tälern und Gräben, das als das entscheidende „Leitungssystem“ der Antarktis fungiert. Bisher war die Existenz einiger solcher Canyons bekannt, doch die neue, umfassende Karte offenbart ein weitaus größeres und komplexeres System als bisher angenommen. Es ist eine verborgene Topographie, die die Zirkulation der Ozeane und das Schicksal des antarktischen Eisschildes maßgeblich beeinflusst.
Das verborgene Leitungssystem des Planeten

Die Bedeutung dieser Canyons liegt in ihrer Doppelfunktion als Arterien und Venen im globalen Klimasystem. Einerseits dienen sie als Kanäle, durch die extrem kaltes und salzhaltiges Wasser von den Schelfeisen in die Tiefsee absinkt. Dieser Prozess ist die Geburtsstunde des Antarktischen Bodenwassers, einer gewaltigen Wassermasse, die als Motor für die globale thermohaline Zirkulation – das weltumspannende Förderband der Meeresströmungen – dient. Ohne dieses Absinken würde die Wärmeverteilung auf dem Planeten fundamental anders aussehen. Die Entdeckung der genauen Pfade dieses Wassers ist ein entscheidender Fortschritt für das Verständnis unseres Klimas.
Doch diese Kanäle funktionieren in beide Richtungen. Und hier liegt die eigentliche Brisanz der Entdeckung für die Klimaforschung. Dieselben Canyons, die kaltes Wasser exportieren, ermöglichen es auch wärmerem, zirkumpolarem Tiefenwasser, direkt bis an die empfindlichsten Stellen des Eisschildes vorzudringen: die sogenannten Grounding Lines, wo das auf dem Meeresboden ruhende Eis zu schwimmen beginnt. Dieses vergleichsweise warme Wasser nagt von unten am Eis, beschleunigt das Schmelzen und destabilisiert die riesigen Gletscher, die es zurückhält. Die Canyons sind somit die Achillesferse der Antarktis.
Die neue Karte zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen Ost- und Westantarktis. Im Osten sind die Canyons älter, breiter und stark verzweigt, geformt über geologische Zeiträume. Im Westen hingegen sind sie kürzer, steiler und jünger – direkte Anzeichen einer viel aktiveren und jüngeren Gletscherdynamik. Besonders besorgniserregend ist, dass diese steilen Canyons direkt zu Gletschern wie dem Thwaites-Gletscher führen, der aufgrund seiner Instabilität auch als „Doomsday-Gletscher“ bekannt ist. Die Canyons wirken hier wie Schnellstraßen, die warmes Wasser direkt an die verwundbarste Stelle des Gletschers liefern.
Ein Quantensprung für die Klimamodelle

Für die Wissenschaftler bedeutet diese detaillierte Kartierung einen Quantensprung. Bisherige Klimamodelle mussten den antarktischen Meeresboden oft als vereinfachte, relativ glatte Oberfläche annehmen. „Man kann es sich so vorstellen, als hätte man bisher versucht, den Wasserfluss in einer Stadt vorherzusagen, ohne den Verlauf der Kanalisation zu kennen“, erklärt ein an der Studie beteiligter Ozeanograph. Nun liegt der Bauplan dieses unterirdischen Systems vor. Die Modelle können jetzt weitaus präziser simulieren, wie und wo das Eis schmilzt und wie schnell der Meeresspiegelanstieg fortschreiten wird.
Diese Präzision ist für Küstenregionen weltweit von existenzieller Bedeutung – auch für Europa. Ein beschleunigtes Abschmelzen der Antarktis hätte direkte Auswirkungen auf Städte wie Hamburg, Bremen oder die Küsten der Niederlande. Die Arbeit von Forschungsschiffen wie der deutschen „Polarstern“, deren Daten in diese Studie eingeflossen sind, liefert somit die entscheidenden Grundlagen für zukünftige Küstenschutzmaßnahmen in unserer Heimat.
Die Entdeckung der 332 Canyons ist somit mehr als nur eine faszinierende geologische Entdeckung. Sie ist eine dringende Mahnung, die die verborgenen, aber gewaltigen Kräfte unter dem Eis offenlegt. Sie zeigt, wie komplex und vernetzt das Erdsystem ist und wie sensibel die scheinbar ewigen Eismassen der Antarktis auf Veränderungen in den Tiefen des Ozeans reagieren. Während die Forschung weitergeht, um die genauen Prozesse in diesen neu entdeckten Welten zu verstehen, ist eines bereits klar: Die Zukunft unserer Küsten entscheidet sich auch in den dunklen, tiefen Canyons am entlegensten Ort der Welt.