Googles größter Umbruch: Die klassische Suche verschwindet

Ein Wandel von historischer Tragweite vollzieht sich auf der wohl bekanntesten Webseite der Welt. Google, seit über zwei Jahrzehnten das unangefochtene Tor zum Internet, leitet den wichtigsten Schritt seiner Geschichte ein: Die klassische Suchmaschine, das Fundament seines Imperiums, tritt in den Hintergrund und macht Platz für eine Zukunft, die von künstlicher Intelligenz geformt wird.
Die Umstellung hat bereits begonnen. Millionen von Menschen sehen auf der Google-Startseite eine neue Schaltfläche. Es ist keine nebensächliche Ergänzung oder ein unscheinbarer Reiter, sondern eine Weichenstellung: der neue „AI Mode“. Mit diesem Schritt wird künstliche Intelligenz zum Hauptakteur der Suche und verdrängt die Formel aus zehn blauen Links, die das digitale Zeitalter definierte. Die Konsequenzen dieses Bebens gehen weit über eine veränderte Benutzeroberfläche hinaus – sie stellen die gesamte Informationsbranche, die Geschäftsmodelle von Millionen von Webseiten und sogar das Fundament von Google selbst in Frage.
Von Links zu Antworten: Ein Paradigmenwechsel
Der „AI Mode“ wird schrittweise weltweit ausgerollt, beginnend im englischsprachigen Raum. Für Nutzer, die ihn aktivieren, verändert sich das Sucherlebnis fundamental. Suchanfragen liefern nicht mehr die gewohnte Liste von Links, sondern direkt von der KI generierte, dialogorientierte Antworten. Den Boden dafür bereitete Google bereits mit den „AI Overviews“ – KI-generierten Zusammenfassungen, die prominent über den klassischen Ergebnissen platziert werden.
Wer noch vor wenigen Jahren nach „Café in Paris mit gutem WLAN und ruhigen Ecken zum Arbeiten“ suchte, erhielt eine Liste gut positionierter Blogs, Empfehlungen in Foren und einen Google-Maps-Block. Ein Mosaik aus Quellen, das der Nutzer selbst zusammensetzen musste. Die AI Overviews änderten dies bereits: Sie lieferten eine von der KI erstellte Zusammenfassung, die dem Nutzer die Arbeit abnahm, aber zumindest noch auf die Quellen verwies. Der neue „AI Mode“ geht nun den entscheidenden Schritt weiter.
Gibt man dieselbe Anfrage im neuen Modus ein, verschwindet die Linkliste fast vollständig. Stattdessen präsentiert die KI eine detaillierte Übersicht: Coworking-freundliche Cafés, Orte mit besonderem Ambiente, interaktive Karten und praktische Tipps. Das System lädt zum Dialog ein. Man kann nachfragen, Vergleiche anfordern oder Präferenzen hinzufügen. Google will nicht mehr nur der Wegweiser sein, sondern das Reisebüro, der Concierge und der Berater in einem – alles innerhalb des eigenen Ökosystems. In der Desktop-Version überleben einige Links in einem kleinen Modul am rechten Rand, doch die Botschaft ist unmissverständlich: Die Ära, in der Google primär Traffic auf andere Webseiten verteilte, neigt sich dem Ende zu.
Ein defensiver Schritt aus existenzieller Not

Dieser radikale Umbau ist keine rein proaktive Innovation, sondern auch eine Reaktion auf den größten Schock, den Google seit seiner Gründung erlebt hat: die Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022. Berichten zufolge löste der Erfolg von OpenAIs Chatbot bei Google einen „Code Red“ aus. Die Vorstellung, dass ein Konkurrent eine direktere, schnellere und interaktivere Form der Informationsbeschaffung anbieten könnte, bedrohte den Kern von Googles Dominanz.
Die Antwort darauf ist Gemini, Googles eigene Familie von KI-Modellen, die nun das Herz der Suche bildet. Die Standardversion Gemini 2.5 treibt die Antworten an, während Premium-Nutzer Zugriff auf erweiterte Funktionen wie „Deep Research“ erhalten – ein Werkzeug, das in der Lage sein soll, Hunderte von Quellen zu analysieren und komplexe Berichte zu erstellen. Es ist ein technologisches Wettrüsten, bei dem es um nichts Geringeres als die zukünftige Kontrolle über den weltweiten Informationsfluss geht.
Das Fundament des Internets gerät ins Wanken

Die Auswirkungen dieses Wandels sind tektonisch und werfen grundlegende Fragen auf. Die erste und drängendste betrifft das offene Internet und seine Inhalteersteller. Seit Jahrzehnten galt ein ungeschriebener Vertrag: Publisher, Blogger und Unternehmen erstellen hochwertige Inhalte, und Google schickt ihnen im Gegenzug Besucher, die durch Werbung oder Verkäufe monetarisiert werden können. Dieses implizite Abkommen wird nun einseitig aufgekündigt. Wenn Google die Antworten direkt liefert und die Nutzer auf seiner Seite hält, bricht der Traffic für unzählige Webseiten weg. Für die deutsche Medienlandschaft, die ohnehin seit Jahren über das Leistungsschutzrecht mit Google ringt, ist dies eine existenzielle Bedrohung.
Paradoxerweise stellt dieser Schritt auch für Google selbst ein enormes Risiko dar. Das Kerngeschäft des Konzerns, die Anzeigen, die neben den Suchlinks erscheinen, erwirtschaftet hunderte Milliarden Dollar pro Jahr. Wie lässt sich Werbung in eine KI-generierte Konversation integrieren, ohne aufdringlich zu wirken und das Vertrauen zu untergraben? Hinzu kommt, dass die Beantwortung einer Anfrage durch eine KI ein Vielfaches mehr an Rechenleistung kostet als das simple Anzeigen einer Linkliste. Der Umbau ist also nicht nur eine strategische, sondern auch eine immense ökonomische Wette.
Darüber hinaus entsteht eine neue Machtkonzentration, die Regulierungsbehörden, insbesondere in Europa, alarmieren dürfte. Wenn Google nicht mehr nur der Index des Internets ist, sondern dessen maßgeblicher Interpret, wächst sein Einfluss als „Gatekeeper“ ins Unermessliche. Welche Quellen wählt die KI aus? Welche Perspektiven bevorzugt sie? Die Gefahr von algorithmischer Voreingenommenheit und die Anfälligkeit der KI für „Halluzinationen“ – das Erfinden von Fakten – sind bekannte Probleme. Bisher führten sie zu peinlichen Schlagzeilen; zukünftig könnten sie die öffentliche Meinungsbildung in einem noch nie dagewesenen Maße beeinflussen.
Google verwandelt sich von einem Verzeichnis von Links in ein Antwort-System. Dieser Übergang definiert nicht nur neu, wie wir Informationen finden. Er schreibt die Spielregeln des digitalen Raums neu und zwingt uns, die Balance zwischen technologischem Fortschritt, wirtschaftlichen Realitäten und dem Wert eines offenen, dezentralen Internets neu zu verhandeln. Ein neues Kapitel hat begonnen, dessen Ausgang noch völlig offen ist.