Antarktis: Winzige Algen heizen die Eisschmelze an

von Carra Hilde
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Auf den ersten Blick wirkt die Antarktis wie eine unberührte, monochrome Welt aus Weiß und Blau. Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich auf den riesigen Eisflächen immer häufiger grüne und rötliche Farbtupfer. Diese „Schneeblüten“ sind keine harmlose Laune der Natur, sondern, wie eine neue Studie enthüllt, ein entscheidender und bisher unterschätzter Brandbeschleuniger für das Abschmelzen des Eiskontinents. Was wie ein kleines, lokales Phänomen aussieht, entpuppt sich als potenzieller Katalysator für den globalen Anstieg des Meeresspiegels.

Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Liang Dong vom Institut für Luft- und Raumfahrtinformationen der Chinesischen Akademie der Wissenschaften hat diesen Zusammenhang nun präzise quantifiziert. Mithilfe von hochauflösenden Satellitendaten der europäischen Sentinel-Missionen analysierten die Wissenschaftler die Entwicklung auf dem Brunt- und dem Riiser-Larsen-Schelfeis zwischen 2019 und 2022. Ihre Entdeckung ist ebenso elegant wie beunruhigend: Winzige Algen, die auf der Schneeoberfläche wachsen, verdunkeln das Eis signifikant. Diese Verdunkelung reduziert das Rückstrahlvermögen der Oberfläche, den sogenannten Albedo-Effekt. Anstatt das Sonnenlicht zurück ins All zu reflektieren, absorbiert die dunklere, von Algen besiedelte Fläche mehr Wärme – und das Eis schmilzt schneller.

„Das führt zu einem Teufelskreis, einer positiven Rückkopplungsschleife“, erläutert Dr. Liang. „Mehr Algenwachstum bedeutet mehr Schmelze, und das Schmelzwasser schafft wiederum ideale, feuchte Bedingungen für weiteres Algenwachstum.“ Dieser Kreislauf verstärkt sich selbst und beschleunigt den Schmelzprozess weit über das hinaus, was allein durch den Temperaturanstieg zu erwarten wäre.

Besonders aufschlussreich ist der Zeitpunkt, zu dem dieser Prozess in Gang kommt. Die Studie zeigt, dass die Algenblüten bereits zu Beginn der Schmelzsaison auftreten, noch bevor die Lufttemperaturen ihr Maximum erreichen. Sie agieren somit nicht als Folge der Erwärmung, sondern als deren aktiver Verstärker. Sie bereiten quasi den Boden für die sommerliche Hauptschmelze vor. Die Forscher konnten mittels statistischer Verfahren wie der Granger-Kausalitätsanalyse nachweisen, dass das Algenwachstum eine direkte Ursache für die nachfolgende, intensivere Schmelze ist.

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Ein biologischer Faktor kippt das Gleichgewicht

Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Stabilität der antarktischen Eisschelfs. Diese gewaltigen, auf dem Ozean schwimmenden Eisplatten wirken wie ein Korken in einer Flasche. Sie bremsen den Fluss der riesigen Gletscher vom Landesinneren ins Meer. Schmilzt die Oberfläche dieser Schelfeise, kann das Schmelzwasser in Gletscherspalten eindringen, diese durch Gefrier- und Tauprozesse erweitern und die gesamte Struktur von innen heraus destabilisieren. Ein geschwächtes oder zerfallendes Eisschelf gibt den dahinterliegenden Gletschern freie Bahn, was deren Fließgeschwindigkeit in den Ozean dramatisch erhöht – mit direkten Folgen für den Meeresspiegelanstieg weltweit.

Die Rolle biologischer Prozesse, der sogenannten „Bioalbedo“, wurde in Klimamodellen bisher oft vernachlässigt. Diese konzentrierten sich primär auf physikalische Faktoren wie Lufttemperatur und Sonneneinstrahlung. Die neue Studie ist ein Weckruf für die Klimaforschung. „Unsere Daten zeigen unmissverständlich, dass zukünftige Modelle diese biologischen Faktoren einbeziehen müssen, um den Anstieg des Meeresspiegels genauer vorhersagen zu können“, so die Autoren. Ohne die Berücksichtigung der Algen könnten die Prognosen die Schmelzraten systematisch unterschätzen.

Diese Forschung, die maßgeblich auf Daten des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus beruht, hat auch für Europa direkte Relevanz. Institutionen wie das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven, eines der weltweit führenden Zentren für Polar- und Meeresforschung, arbeiten intensiv an Modellen, die solche komplexen Wechselwirkungen abbilden. Ein präziseres Verständnis der antarktischen Schmelzdynamik ist entscheidend für den Küstenschutz an Nord- und Ostsee und für die Zukunft von Hafenstädten wie Hamburg und Bremen.

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Interessanterweise beobachtete das Team um Dr. Liang auch, dass das Algenwachstum gegen Ende der Saison nachlässt, obwohl die Temperaturen weiterhin hoch sind. Dies deutet darauf hin, dass andere Faktoren, wie etwa die Verfügbarkeit von Nährstoffen oder die Intensität der UV-Strahlung, das Wachstum begrenzen. Diese Komplexität eröffnet neue Forschungsfragen: Könnte dieser natürliche Begrenzungsmechanismus durch veränderte Umweltbedingungen, etwa durch Nährstoffeintrag aus eisfreien Gebieten, außer Kraft gesetzt werden? Handelt es sich bei den Algenblüten um ein neues Phänomen, das durch die Klimaerwärmung begünstigt wird, oder beobachten wir lediglich eine deutliche Zunahme eines bereits existierenden Prozesses?

Die Entdeckung, dass das kleinste Leben auf dem Planeten die Stabilität des größten Eisschildes beeinflusst, ist eine eindringliche Mahnung. Sie zeigt, wie eng verwoben die Systeme der Erde sind und dass die Folgen des Klimawandels oft auf unerwartete und sich selbst verstärkende Weise auftreten. Die bunten Flecken auf dem ewigen Eis sind mehr als nur eine Kuriosität – sie sind ein sichtbares Zeichen dafür, dass das empfindliche Gleichgewicht der Antarktis zu kippen droht.

Carra Hilde

Carra Hilde ist eine der jungen Autorinnen in unserem Online-Magazin. Aber dafür eine der produktivsten, vor allem bei ihren Lieblingsthemen: Sport, Ernährung und gesundes Leben. Carras Karriere begann als Redaktionsassistentin und Übersetzerin, über eine Tätigkeit als freie Journalistin bei der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 2015 bis hin zur Redakteurin beim Handelsblatt, einer führenden Wirtschafts- und Finanzzeitung.