Antarktis: Gewaltiges Kanalnetz unter dem Eis entdeckt

Der Ozean bleibt, ähnlich wie der Weltraum, eine der letzten großen Unbekannten für die Menschheit. Seine schiere Weite trotzt selbst Jahrzehnten intensiver Forschung. Doch nun haben spanische Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht, die nicht nur die Karten des antarktischen Meeresbodens neu zeichnet, sondern auch unser Verständnis von globalen Klimasystemen grundlegend verändern könnte. Tief unter den massiven Eisschelfen des kältesten Kontinents verbirgt sich ein gewaltiges Netzwerk aus Unterwasserschluchten, dessen Ausmaß alle bisherigen Annahmen in den Schatten stellt.
Ein Team, primär vom Andalusischen Institut für Geowissenschaften (IAG-CSIC) an der Universität Granada, hat in einer akribischen Analyse von Daten aus über 40 internationalen Expeditionen eine verborgene Welt aufgedeckt. Sie identifizierten insgesamt 322 bisher unbekannte Unterwasser-Canyons. Das ist das Fünffache der bisher kartierten Anzahl und offenbart eine Topografie von ungeahnter Komplexität. Einige dieser Canyons sind gigantisch und reichen bis zu vier Kilometer in die Tiefe – tiefer als der Grand Canyon und verborgen unter hunderten Metern schwimmenden Eises.
Die Erstellung dieser ersten umfassenden Karte war eine wissenschaftliche Herkulesaufgabe. Jahrzehntelang war es nahezu unmöglich, verlässliche bathymetrische Daten unter den riesigen, schwer zugänglichen Eisschelfen zu sammeln. Erst durch die Bündelung von Daten internationaler Partner, darunter auch Messungen von Forschungsschiffen wie dem deutschen Eisbrecher „Polarstern“ des Alfred-Wegener-Instituts, konnte dieses detaillierte Bild entstehen. Die hochauflösenden Sonardaten enthüllen ein System von „Adern“, das die Geschichte des Kontinents erzählt und seine Zukunft entscheidend mitbestimmt.

Was die verborgene Welt unter dem Eis bedeutet
Diese Entdeckung ist weit mehr als nur eine geologische Kuriosität. Sie ist ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis zweier fundamentaler Prozesse: der Vergangenheit des Eisschildes und der zukünftigen Stabilität des globalen Klimas. Die Canyons sind wie Narben in der Landschaft, geformt von gewaltigen Eisströmen über Jahrmillionen. Sie erlauben es Wissenschaftlern, die „Geschichte der Eisbewegung zu rekonstruieren“, so die Forscher. Indem sie die Pfade des Eises nachzeichnen, können sie ihre Modelle über das Verhalten der Antarktis in vergangenen Warm- und Kaltzeiten erheblich verbessern.
Noch relevanter sind jedoch die Implikationen für die Gegenwart und Zukunft. Die Schluchten agieren als ein duales System mit globalen Auswirkungen. Einerseits dienen sie als Kanäle für extrem kaltes und salzhaltiges Wasser. Wenn Meerwasser an der Oberfläche gefriert, wird Salz freigesetzt, was das verbleibende Wasser dichter und schwerer macht. Dieses dichte Wasser sinkt ab und fließt durch die Canyons in die Tiefsee. Dieser Prozess ist einer der Hauptmotoren der globalen thermohalinen Zirkulation, jenem „globalen Förderband“ der Ozeane, das Wärme um den Planeten transportiert und das Klima, auch in Europa, maßgeblich reguliert.
Andererseits funktioniert dieser Prozess auch in die entgegengesetzte Richtung – und das mit alarmierender Effizienz. Wärmeres, salzreiches Zirkumpolares Tiefenwasser, das aus anderen Ozeanbecken stammt, findet durch genau diese Canyons einen direkten Weg unter die schwimmenden Eisschelfe. Diese „warmen“ Wassermassen (oft nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt, aber warm genug, um Eis zu schmelzen) greifen das Eis von unten an. Dieser als „basales Schmelzen“ bekannte Prozess ist einer der Haupttreiber für den Masseverlust der Antarktis und trägt maßgeblich zum globalen Meeresspiegelanstieg bei. Die neuentdeckten Canyons sind im Grunde Superhighways, die dieses Schmelzwasser direkt an die empfindlichsten Stellen der Eisschelfe liefern.

Die Konsequenzen sind weitreichend. Die bisherigen Klimamodelle, die die Reaktion des antarktischen Eisschildes auf die globale Erwärmung vorhersagen, basierten auf einer viel einfacheren, glatteren Vorstellung des Meeresbodens. Die Existenz dieses komplexen Canyon-Netzwerks bedeutet, dass die Wechselwirkung zwischen Ozean und Eis viel dynamischer und potenziell instabiler ist als bisher angenommen. Die Modelle müssen nun angepasst werden, um diese neuen Wärmeeinfallstore zu berücksichtigen. Dies könnte bedeuten, dass bisherige Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels, der Küstenstädte von Hamburg bis New York bedroht, zu konservativ waren.
Die Entdeckung wirft daher drängende neue Fragen auf: Wie stark beschleunigt dieses Kanalnetz den Kollaps von Schlüsselgletschern wie dem Thwaites- oder Pine-Island-Gletscher im Westen der Antarktis? Und wie hat sich die Zirkulation in diesen Kanälen in den letzten Jahrzehnten durch die Erwärmung der Ozeane bereits verändert? Die verborgene Welt unter dem Eis der Antarktis ist nicht länger nur eine leere Stelle auf der Landkarte – sie ist zu einem zentralen, aktiven Akteur im globalen Klimageschehen geworden.