Lucy und Selam: Äthiopiens Urahnen ausgestellt

Für nur 60 Tage öffnet sich in Äthiopien ein außergewöhnliches Fenster in die tiefste Vergangenheit der Menschheit. Im Rahmen der Ausstellung „Der Ursprung des Menschen und Fossilien” werden die weltberühmten Überreste von Lucy und Selam erstmals seit Jahren wieder gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Es ist eine seltene Gelegenheit, jenen Wesen direkt zu begegnen, die unser Verständnis davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, für immer verändert haben.
Die Geschichte von Lucy beginnt an einem Novembermorgen im Jahr 1974 in der Afar-Senke Äthiopiens. Der Paläoanthropologe Donald Johanson entdeckte einen kleinen Knochen, der sich als Teil des Skeletts eines Vormenschen entpuppte. In den folgenden Wochen legte sein Team rund 40 Prozent eines Skeletts frei, das auf ein Alter von 3,2 Millionen Jahren datiert wurde. Im Lager der Expedition lief immer wieder der Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds” – und so erhielt der Fund seinen ikonischen Namen. Lucy war eine Sensation. Ihr nur 1,1 Meter großes Skelett mit einem Gewicht von geschätzten 29 Kilogramm bewies endgültig, was Wissenschaftler lange vermutet hatten: Unsere Vorfahren gingen aufrecht, lange bevor sich ihre Gehirne vergrößerten. Lucys Becken- und Oberschenkelknochen waren der unumstößliche Beweis für den aufrechten Gang, ein Wendepunkt in der menschlichen Evolution.
Lange galt Lucy als die „Urgroßmutter der Menschheit”. Dieser Titel wurde ihr zwar durch ältere Funde wie „Ardi” (ein 4,4 Millionen Jahre alter Ardipithecus ramidus) streitig gemacht, doch ihre Bedeutung bleibt ungeschmälert. Sie war die erste ihrer Art, Australopithecus afarensis, die der Welt ein so klares Bild unserer fernen Vergangenheit vermittelte.

Vom einzelnen Fossil zur ganzen Spezies
Jahrzehnte später, im Jahr 2000, machte der äthiopische Wissenschaftler Zeresenay Alemseged unweit von Lucys Fundort eine weitere Entdeckung, die die Forschung erneut revolutionierte: Selam, auch „Lucys Baby” genannt. Das Skelett eines etwa dreijährigen Australopithecus afarensis-Mädchens, das vor 3,3 Millionen Jahren lebte, war fast vollständig erhalten. Die Bergung des zarten Skeletts aus dem festen Sandstein dauerte Jahre und war eine wissenschaftliche Meisterleistung.
Selam gab uns Einblicke, die Lucy allein nicht liefern konnte. Ihr Zungenbein ähnelte dem von Menschenaffen, was auf eine begrenzte Fähigkeit zur Lautbildung hindeutet. Ihre Schulterblätter wiederum zeigten Merkmale, die auf eine kletternde Lebensweise schließen lassen. Selam und Lucy zeichnen zusammen das Bild einer Spezies im Übergang: Wesen, die bereits sicher auf zwei Beinen am Boden liefen, aber die Sicherheit der Bäume noch nicht vollständig aufgegeben hatten. Sie starb nicht im jugendlichen Alter wie Lucy, die schätzungsweise mit 11 bis 13 Jahren verstarb, sondern als Kleinkind – ein tragischer, aber unschätzbar wertvoller Blick in die Kindheit unserer Vorfahren.

Die Ausstellung dieser beiden Fossilien ist weit mehr als eine wissenschaftliche Präsentation. Sie ist ein Akt des nationalen Stolzes für Äthiopien, das sich zunehmend seiner Rolle als „Wiege der Menschheit” bewusst ist. Jahrelang waren solche Funde oft Gegenstand internationaler Auseinandersetzungen über Besitzansprüche und wissenschaftlichen Zugang. Eine umstrittene Ausstellungstour von Lucy durch die USA von 2007 bis 2013 löste eine heftige Debatte über die Risiken für das unersetzliche Fossil und die Frage aus, wem dieses Erbe der gesamten Menschheit gehört. Dass die Überreste nun in Addis Abeba gezeigt werden, ist auch ein politisches Statement: Das Erbe Afrikas wird in Afrika verwaltet und erforscht.
Diese Perspektive ist auch für Europa relevant. Forschungseinrichtungen wie das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeiten eng mit afrikanischen Institutionen zusammen, doch die Dynamik hat sich verändert. Es ist keine einseitige Expedition mehr, sondern eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Die Ausstellung unterstreicht die wachsende wissenschaftliche Infrastruktur und Expertise auf dem afrikanischen Kontinent. Für Äthiopien ist sie zudem ein wichtiger Impuls für den Kulturtourismus, der die einzigartige paläontologische Bedeutung des Landes in den Vordergrund rückt.
Die Präsentation von Lucy und Selam wirft aber auch Fragen auf, die die Wissenschaft bis heute beschäftigen. Wie genau lebten diese Vormenschen in Gruppen? Welche sozialen Strukturen hatten sie? Und wie starben sie? Eine Studie aus dem Jahr 2016 legte nahe, dass Lucy durch einen Sturz aus großer Höhe – wahrscheinlich von einem Baum – ums Leben kam. Diese Theorie ist umstritten, zeigt aber, wie lebendig die Forschung rund um diese Millionen Jahre alten Knochen noch immer ist. Jede neue Untersuchungsmethode kann den stummen Zeugen neue Geheimnisse entlocken. Für die Besucher der Ausstellung bleibt vor allem der tiefgreifende Eindruck, den Vorfahren gegenüberzustehen, deren Existenz die Grundlage für unsere eigene bildet. Ein stiller Dialog über Millionen von Jahren hinweg, der uns daran erinnert, woher wir alle kommen.