Zerrissene Leinwand: Darf man die Kunst vom Künstler trennen?

Ein Meisterwerk der Widersprüche: Alain Delon erhält die Goldene Ehrenpalme – ein Preis, der mehr Fragen aufwirft als Antworten bietet.

von Elke Schneider

Ich saß vor einigen Jahren in Cannes, als die Nachricht plötzlich die Runde machte. Einer der letzten großen Giganten des europäischen Kinos sollte die goldene Ehrenpalme bekommen. Und sofort ging ein Raunen durch die Gänge des Festivalpalais. Auf der einen Seite: anerkennendes Nicken. Klar, wer sonst? Auf der anderen Seite: scharfes Zischen. Ausgerechnet er, der Mann mit den verstörenden Aussagen. Ganz ehrlich, diese Ehrung war von Anfang an eine Zerreißprobe. Ein Funke in einem Pulverfass aus alten Wunden und brandaktuellen Debatten.

In meiner Zeit als Beobachter der Filmbranche habe ich schon viele Ehrungen miterlebt. Manche sind reine Formsache, andere hochverdient. Aber selten hat eine Auszeichnung die Gemüter so erhitzt wie diese. Plötzlich ging es nicht mehr nur um Filme. Es ging um Moral. Um die Frage, die uns doch alle umtreibt: Können und dürfen wir einen Künstler feiern, dessen menschliche Seite uns, sagen wir mal, Schwierigkeiten bereitet?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Aber wir müssen die Frage stellen. Und dafür müssen wir uns die Sache mal genauer ansehen.

Die Schauspiel-Legende Alain Delon erhält die Goldene Ehrenpalme in Cannes

Der Stoff, aus dem Mythen sind

Um die ganze Wucht der Kontroverse zu kapieren, muss man verstehen, wie diese eine Person zu einem solchen Symbol werden konnte. Das hat fast schon handwerkliche Gründe – es geht um das Material, die Form und die Wirkung auf uns, die Zuschauer.

Sein „Material“ war natürlich sein Aussehen. Eine fast schon übermenschliche Schönheit, kühl und makellos wie Marmor. Das war seine Eintrittskarte in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Aber Schönheit allein macht noch keinen Mythos. Es braucht Profis, die wissen, wie man sie formt. In seinem Fall waren das Regisseure, die erkannten, dass hinter dieser perfekten Fassade eine Leere lauerte. Eine faszinierende Kälte, die man auf der Leinwand brillant nutzen konnte.

In „Nur die Sonne war Zeuge“ sehen wir das zum ersten Mal in Reinform. Er spielt einen Mörder, der aus Neid und Gier handelt, und er ist charmant und abstoßend zugleich. Das Publikum war gefesselt. Man spürte die Gefahr, die von dieser Schönheit ausging. Das war der Grundstein für den Mythos: Er spielte nicht nur eine Rolle, er wurde zur Projektionsfläche für unsere eigenen verborgenen Wünsche und Ängste.

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Ein anderer Regisseur, ein Meister des Minimalismus, trieb das später auf die Spitze. In „Der eiskalte Engel“ wurde dieses Bild perfektioniert. Die Hauptfigur spricht kaum. Er existiert nur durch seine präzisen Handlungen und Rituale. Trenchcoat, Hut, Handschuhe. Seine Wohnung ist karg, seine Bewegungen sind reduziert. Ein Profi ohne erkennbare Gefühle. So wurde eine Ikone geschaffen: das Symbol des einsamen, unnahbaren Mannes. Dieses Bild hat sich so tief eingebrannt, dass es fast unmöglich scheint, den Schauspieler von diesem Image zu trennen.

Die dunkle Seite: Wenn die Ikone Risse bekommt

Man kann nicht über den Streit sprechen, ohne die Fakten auf den Tisch zu legen. Es geht hier nicht um Gerüchte, sondern um seine eigenen Worte aus diversen Interviews. Und genau hier entsteht der krasse Widerspruch, der so schwer auszuhalten ist.

Auf der einen Seite haben wir das Bild des coolen Profis im Trenchcoat, eine Leinwand-Ikone. Auf der anderen Seite steht die reale Person, die im Fernsehen zugab, Frauen gegenüber handgreiflich geworden zu sein. Er verharmloste das als „mal eine Ohrfeige“, die er ausgeteilt, aber auch bekommen habe. Das ist, ehrlich gesagt, einer der Hauptgründe für die Proteste gewesen.

Die Schauspiel-Legende Alain Delon erhält die Goldene Ehrenpalme in Cannes

Und es geht weiter. Er bezeichnete Homosexualität mehrfach als „gegen die Natur“ und sprach sich dagegen aus, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren. Dazu kam seine wiederholte Sympathiebekundung für die extreme politische Rechte in Frankreich, deren Aufstieg er für „verständlich und richtig“ hielt.

Diese Aussagen zeichnen das Bild einer Weltanschauung, die in einer anderen Zeit stecken geblieben ist. Und was war seine Reaktion auf die massive Kritik und die Petition gegen seine Ehrung? Weitestgehend Schweigen oder abwehrende Kommentare seines Umfelds. Kein Bedauern, keine Entschuldigung. Diese Haltung macht den Graben nur noch tiefer.

Frankreichs Umgang mit seinen „Heiligen Monstern“

Um die Entscheidung des Festivals in Cannes zu verstehen, muss man kurz über den Tellerrand nach Frankreich blicken. Dort gibt es ein Konzept, das wir hier kaum kennen: das „monstre sacré“, das heilige Monster. Gemeint sind Künstler, die einen so legendären Status haben, dass sie über normalen moralischen Maßstäben zu schweben scheinen.

Denken wir an den korpulenten Bonvivant mit seinen zahllosen Skandalen oder die berühmte Tierschutz-Ikone mit ihren problematischen politischen Äußerungen. In Frankreich verzeiht man solchen Figuren oft mehr. Es ist Teil der Kultur, das künstlerische Genie über die Person zu stellen. Die #MeToo-Bewegung hat diesen Unterschied zu Ländern wie den USA oder auch Deutschland noch deutlicher gemacht.

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Die Ehrung dieser Film-Ikone war also auch ein Statement. Der Festivaldirektor sagte damals sinngemäß: „Wir geben ihm ja nicht den Friedensnobelpreis.“ Eine bewusste Verteidigung des Rechts, ein künstlerisches Lebenswerk zu ehren, getrennt von der Person. Das muss man nicht gutheißen, aber man muss es wissen, um die ganze Situation einordnen zu können.

Was tun? Drei Wege im Umgang mit problematischer Kunst

Also, was machen wir nun damit? Wegschauen? Seine Filme boykottieren? Oder einfach weiterfeiern? Es gibt verschiedene Wege, und keiner ist perfekt.

  1. Die strikte Trennung: Das ist der klassische Weg, den auch Cannes gewählt hat. Das Werk steht für sich. Punkt. Das erlaubt uns, Kunst von schwierigen Menschen zu genießen – sonst müssten wir, seien wir ehrlich, einen Großteil der Kunstgeschichte von Malern bis zu Komponisten streichen. Die Gefahr: Man läuft Gefahr, die Taten zu verharmlosen und die Perspektive von Opfern zu ignorieren.
  2. Der bewusste Blick: Das ist der anspruchsvollere Weg. Wir schauen die Filme, aber nicht naiv. Wenn ich heute „Der eiskalte Engel“ sehe, sehe ich nicht mehr nur den coolen Profi. Das Wissen um die Aussagen des Darstellers schwingt mit und macht den Film komplexer, vielleicht sogar verstörender.

    Kleiner Tipp zum Ausprobieren: Leih dir für 3-4 € „Nur die Sonne war Zeuge“ bei einem Streaming-Dienst wie Amazon Prime oder Apple TV. Schau dir eine Szene an und achte nur auf den unwiderstehlichen Charme der Figur. Und dann frag dich: Sehe ich die Szene anders, wenn ich weiß, dass der Darsteller Homosexualität als „wider die Natur“ bezeichnet? Das ist eine spannende Übung.

  3. Die klare Kante: Für manche Menschen, besonders für Betroffene von Gewalt, ist es schlicht unerträglich, die Kunst eines solchen Menschen zu konsumieren. Das ist eine absolut legitime und verständliche Haltung. Ein persönlicher Boykott ist hier eine klare moralische Positionierung, die Respekt verdient.

Welcher Weg der richtige ist? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich persönlich neige zu Weg 2. Er ist der unbequemste, aber auch der ehrlichste, weil er uns zwingt, mit dem Widerspruch zu leben.

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Wo anfangen? Ein kleiner Guide für Neugierige

Du bist jetzt neugierig geworden, möchtest dir aber nicht gleich das Gesamtwerk vornehmen? Verständlich. Hier sind zwei Filme, die perfekt für den Einstieg sind, weil sie die beiden Pole seines Schaffens zeigen.

  • Für den Thrill: „Nur die Sonne war Zeuge“. Das ist der Film, der seinen internationalen Durchbruch begründete. Ein psychologischer Thriller an der italienischen Küste, sonnendurchflutet und gleichzeitig eiskalt. Hier siehst du die verführerische, gefährliche Seite seines Images in Perfektion. Oft in der Arte Mediathek zu finden oder für ein paar Euro bei den üblichen Anbietern zu leihen.
  • Für die Coolness: „Der eiskalte Engel“. Der Inbegriff des Minimalismus. Ein Killer, ein Trenchcoat, kaum ein Wort. Der Film ist pure Atmosphäre und stilbildend für das Genre. Wenn du verstehen willst, woher das Bild des unnahbaren Profis kommt – hier ist die Antwort. Gibt es oft auf Plattformen wie Mubi oder ebenfalls zum Leihen.
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Fazit: Der Umgang mit einem beschädigten Denkmal

Am Ende bleibt ein Gefühl der Zerrissenheit. Und vielleicht ist das die wichtigste Lektion. Wir müssen lernen, mit dieser Zerrissenheit zu leben und unsere Idole nicht auf zu hohe Sockel zu stellen. Jedes Denkmal bekommt Risse, wenn man nur genau genug hinsieht.

Die umstrittene Ehrenpalme war kein Fehler. Sie war ein Katalysator für eine notwendige Debatte darüber, wie wir als Gesellschaft mit unserem kulturellen Erbe umgehen, das oft großartig und schrecklich zugleich ist. Die Filme bleiben Meisterwerke, aber unser Blick auf sie hat sich für immer verändert. Wir sehen sie kritischer. Und das ist vielleicht der größte Verdienst dieser ganzen Sache.

Wenn du dir also einen seiner Filme ansiehst, tu es bewusst. Erkenne die Kunst an, aber vergiss den Menschen dahinter nicht. Ein Denkmal zu betrachten bedeutet nicht, es anzubeten. Es bedeutet, es zu verstehen. Mit all seiner Schönheit und all seinen Fehlern.

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Aber jetzt bin ich neugierig: Wie siehst du das? Kann man Kunst und Künstler trennen? Schreib mir deine Meinung gerne in die Kommentare!

Elke Schneider

Elke Schneider ist eine vielseitige Sammlerin von Fachkenntnissen. Ihren Weg in den Journalismus begann sie mit einem soliden Fundament aus ihrem Studium an der Universität Dresden. Literatur, Kunstgeschichte und Philologie sind ihre Lieblingsfächer.