Das ‚Dubai des weißen Goldes‘: Dieses Land führt den Lithiummarkt an

Lateinamerika ist mehr als nur eine Landkarte lebendiger Kulturen, vielfältiger Küchen und atemberaubender Landschaften. Es ist eine Region, deren Böden die strategischen Rohstoffe für die Energiezukunft des Planeten bergen. In diesem geologischen Schatzhaus hat sich ein Land den Spitznamen „Dubai des weißen Goldes” verdient – ein Titel, der Reichtum, Ambition und eine globale Schlüsselrolle suggeriert. Doch die Geschichte hinter diesem Namen ist komplexer als sie scheint und offenbart ein tiefes Paradoxon im Herzen der globalen Energiewende.
Im Zentrum steht das „weiße Gold“: Lithium, das unverzichtbare Element für die Batterien, die Elektroautos antreiben und die Speicherung erneuerbarer Energien ermöglichen. Während die Welt fieberhaft versucht, sich vom fossilen Zeitalter zu verabschieden, ist der Kampf um die Kontrolle dieses Metalls in vollem Gange. Und Südamerika ist das Epizentrum.
Das Paradox des größten Schatzes
Fragt man, welches Land die größten Lithiumvorkommen der Welt besitzt, lautet die Antwort eindeutig: Bolivien. Der Salar de Uyuni, die größte Salzwüste der Erde, ist eine surreale, blendend weiße Weite von etwa 10.582 Quadratkilometern. Unter seiner Kruste lagern nach Schätzungen des US-Geologischen Dienstes (USGS) die mit Abstand größten Lithiumreserven der Welt – potenziell bis zu 21 Millionen Tonnen. Ein unvorstellbarer Schatz, der das Land über Nacht in eine Rohstoff-Supermacht verwandeln könnte.
Doch die Realität sieht anders aus. Bolivien ist ein schlafender Riese. Trotz des gewaltigen Potenzials kämpft das Land seit Jahren mit erheblichen Hürden, die eine großflächige kommerzielle Nutzung verhindern. Die Gründe sind vielschichtig: Die Lithium-Sole im Salar de Uyuni hat eine hohe Konzentration an Magnesium, was die Extraktion technologisch anspruchsvoll und teuer macht. Hinzu kommt eine tief verwurzelte politische Skepsis gegenüber ausländischem Kapital, die in der Ära von Evo Morales zu einer nationalistischen Rohstoffpolitik führte. Man wollte nicht nur das Rohmaterial exportieren, sondern eine komplette Wertschöpfungskette bis hin zur Batterieproduktion im Land aufbauen – ein ambitioniertes, aber bislang kaum realisierbares Ziel. Das Ergebnis: Mangelnde Infrastruktur und fehlendes Know-how bremsen die Entwicklung, während die Welt nicht wartet.
Chiles pragmatischer Aufstieg zur Macht

Während Bolivien von einer industriellen Zukunft träumt, hat sein Nachbar Chile sie längst Realität werden lassen. Obwohl Chile über geringere Reserven als Bolivien verfügt, ist es der unangefochtene Produktionsführer in Lateinamerika und die weltweite Nummer zwei hinter Australien. Im Jahr 2023 produzierte Chile beeindruckende 271.000 Tonnen Lithiumcarbonat-Äquivalent (LCE) und strebt an, diese Zahl bis 2025 auf über 300.000 Tonnen zu steigern.
Der chilenische Erfolg basiert auf einem pragmatischeren Ansatz. In der Atacama-Wüste, einem der trockensten Orte der Welt, haben öffentlich-private Partnerschaften mit Giganten wie Codelco (staatlich) und SQM (privat) eine der effizientesten Lithium-Industrien der Welt geschaffen. Die Nationale Lithiumstrategie der Regierung zielt darauf ab, die staatliche Kontrolle zu erhöhen und gleichzeitig private Investitionen in neue Projekte zu lenken. Es ist ein Balanceakt zwischen nationalen Interessen und den Notwendigkeiten des globalen Marktes.
Dieser pragmatische Ansatz hat Chile zu einem entscheidenden Partner für Industrienationen gemacht, insbesondere für Europa und Deutschland. Im Zuge des EU Critical Raw Materials Act suchen deutsche Automobilhersteller wie Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz händeringend nach stabilen und diversifizierten Lieferketten, um ihre Abhängigkeit von China zu verringern. Chile gilt hier als strategischer Anker. Doch dieser Erfolg hat seinen Preis. Die Lithiumgewinnung ist extrem wasserintensiv. In der Atacama-Wüste führt dies zu wachsenden Konflikten mit indigenen Gemeinschaften, die um ihre knappen Wasserreserven und das empfindliche Ökosystem fürchten. Der Glanz des weißen Goldes wirft einen langen Schatten auf die Umwelt und soziale Gerechtigkeit.
Der globale Wettbewerb im „Lithium-Dreieck“

Das Ringen um die Vorherrschaft beschränkt sich nicht auf Bolivien und Chile. Zusammen mit Argentinien bilden sie das sogenannte „Lithium-Dreieck“, das mehr als die Hälfte der weltweiten Reserven beherbergt. Argentinien entwickelt sich zunehmend zu einem dynamischen Akteur, der mit einer investorenfreundlicheren Politik internationale Unternehmen anzieht. Hier entsteht eine neue Front im globalen Rohstoffwettbewerb.
In diesem Wettbewerb positioniert sich China äußerst aggressiv. Mit strategischen Investitionen sichert sich Peking den Zugang zu Minen und Projekten in der gesamten Region und baut seine Dominanz in der Weiterverarbeitung und Batterieproduktion weiter aus. Für den Westen ist dies ein Weckruf. Es geht nicht mehr nur um den Rohstoff selbst, sondern um die Kontrolle der gesamten Lieferkette – von der Mine bis zum fertigen Elektroauto.
Die weltweite Nachfrage nach Lithium steigt unaufhaltsam. Analysten gehen davon aus, dass sie sich bis 2030 vervielfachen wird, angetrieben durch die globalen Klimaziele und das von der EU beschlossene Aus für neue Verbrennungsmotoren ab 2035. Zwar kam es 2023 zu einem signifikanten Preisverfall von fast 80 % auf rund 12.000 US-Dollar pro Tonne, bedingt durch ein vorübergehendes Überangebot und eine schwächelnde Nachfrage nach E-Autos in China. Doch Experten sehen darin nur eine kurzfristige Korrektur. Langfristig bleibt der Trend eindeutig aufwärtsgerichtet. Für die Länder des Lithium-Dreiecks ist dies die vielleicht größte wirtschaftliche Chance seit Generationen – und gleichzeitig die größte Gefahr, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und in der Rohstofffalle zu landen.
Die Frage, die über der sonnenverbrannten Landschaft der Anden schwebt, ist, ob das „weiße Gold“ zu nachhaltigem Wohlstand wie in Dubai führen kann oder ob es nur ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Ausbeutung von Ressourcen in Lateinamerika wird.