Saarbrückens Alternative: Filmreife Industrie-Kathedrale

von Brittany Alaine Koehler
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Ich muss zugeben, als ich das erste Mal nach Neunkirchen fuhr, hatte ich die typischen Bilder einer alten saarländischen Industriestadt im Kopf: Grau, vielleicht etwas rau, definitiv nicht auf der Liste der „Must-See“-Orte. Doch was ich fand, hat meine Erwartungen komplett auf den Kopf gestellt. Entdecken Sie mit mir die authentische Alternative zu Saarbrücken – Neunkirchen, eine Stadt, die Sie mit ihrer einzigartigen Mischung aus 400-jähriger Stahlgeschichte und einer überraschend lebendigen Kulturszene packen wird.

Warum Neunkirchen authentischer als Saarbrücken ist

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Saarbrücken mit seinem französischen Flair und der schönen Altstadt. Aber manchmal ist es einfach zu voll, zu international, zu poliert. In Neunkirchen hingegen spürt man noch das echte, unverfälschte Saarland. Mit nur einem Bruchteil der ausländischen Übernachtungsgäste im Vergleich zur Landeshauptstadt taucht man hier in eine andere Welt ein. Es ist diese ehrliche Atmosphäre, fernab vom Massentourismus, die den wahren Charme ausmacht. Man kommt nicht als anonymer Tourist, sondern fühlt sich sofort als Entdecker.

Industriekultur zum Anfassen: Die Neue Gebläsehalle

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Das Herzstück Neunkirchens und der Hauptgrund meiner Reise war das Alte Hüttenareal. Und im Zentrum davon: die imposante Neue Gebläsehalle. Wenn man davorsteht, fühlt man sich winzig. Das ist keine sterile Museumshalle, das ist eine Kathedrale aus Stahl. Beim Betreten – falls man das Glück hat, für eine Veranstaltung hier zu sein – riecht es immer noch nach altem Eisen und harter Arbeit. Die Dimensionen sind gewaltig. Wichtiger Tipp: Die Halle ist keine Attraktion mit regulären Öffnungszeiten. Sie ist ein Veranstaltungsort. Schauen Sie also unbedingt vor Ihrem Besuch auf den Veranstaltungskalender der Stadt. Ein Konzert oder eine Messe hier zu erleben, ist Gänsehaut pur.

Genau hier fand auch die Verleihung des renommierten Günter Rohrbach Filmpreises statt, der Neunkirchen jedes Jahr im November einen Hauch von Berlinale-Glamour verleiht. Diese Verschmelzung von rostigem Industriecharme und rotem Teppich ist so einzigartig und schafft eine Atmosphäre, die man in keiner Hochglanz-Location findet. Es zeigt, wie stolz die Stadt auf ihre Wurzeln ist und sie gleichzeitig modern interpretiert.

Vom Stahlkocher zum Wanderparadies

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Was mich am meisten überrascht hat, war das Grün. Direkt am Rande der Industriedenkmäler beginnen die Naherholungsgebiete. Neunkirchen ist der perfekte Beweis dafür, wie sich die Natur zurückerobert, was der Mensch einst beanspruchte. Ich empfehle eine Wanderung auf dem „Hüttenweg“. Die Wege sind gut ausgeschildert und man spaziert auf alten Bahntrassen und vorbei an Relikten der Industrie, die langsam von Moos und Bäumen überwuchert werden. Ein faszinierender Kontrast.

Für die beste Aussicht lohnt sich der Ausflug zum Höcherberg-Turm. Packen Sie ein paar Münzen ein, manchmal kostet der Aufstieg 1-2 Euro, aber der Panoramablick über die transformierte Landschaft ist jeden Cent wert. An einem klaren Tag sieht man, wie sich Wälder und neue Siedlungen dort ausbreiten, wo einst Schlote rauchten. Es ist ein Ort, der nachdenklich macht und gleichzeitig voller Hoffnung steckt.

Saarländische Küche: Ehrlich und ohne Touristen-Nepp

In Neunkirchen erlebt man saarländische Gastfreundschaft in ihrer reinsten Form. Statt auf internationale Küche für Touristen zu setzen, pflegt man hier die regionalen Klassiker. Ich bin im „Stumm’s Brauhaus“ gelandet, das direkt auf dem alten Brauereigelände liegt. Die Atmosphäre ist rustikal-gemütlich, das Bier wird vor Ort gebraut und auf der Karte stehen Gerichte wie „Dibbelabbes“ oder ein deftiger „Schwenker“.

Ich entschied mich für den Schwenkbraten mit Bratkartoffeln für rund 18 Euro – eine Portion, die zwei hungrige Stahlarbeiter satt gemacht hätte. Dazu ein frisch gezapftes Bier für knapp 4 Euro. Hier isst man Seite an Seite mit den Einheimischen. Es ist laut, herzlich und absolut authentisch. Ein kulinarisches Erlebnis, das in Saarbrücken so kaum noch zu finden ist.

Nächtliche Industrieromantik für Fotografen

Bleiben Sie unbedingt bis zur Dämmerung! Wenn die Sonne untergeht, erwacht das Alte Hüttenareal zu neuem Leben. Die alten Hochöfen und die Gebläsehalle werden kunstvoll beleuchtet und verwandeln sich in eine magische Lichterlandschaft. Als Hobbyfotograf war das für mich ein absolutes Highlight. Mein Tipp: Nehmen Sie ein Stativ mit und suchen Sie sich einen Platz in der Nähe des Wasserturms. Die langen Belichtungszeiten fangen die glühenden Farben der Stahlkolosse vor dem tiefblauen Nachthimmel perfekt ein. Es ist eine fast surreale Szenerie, die die Geschichte und die Gegenwart der Stadt in einem einzigen Bild vereint.

Anreise und was ich gerne vorher gewusst hätte

Was viele nicht wissen: Neunkirchen ist von Saarbrücken aus ein perfekter Tagesausflug. Mit dem Regionalzug ist man in nur 20-25 Minuten da. Ein Ticket kostet je nach Verbindung zwischen 6 und 9 Euro. Vom Bahnhof aus kann man das Hüttenareal bequem zu Fuß in etwa 15 Minuten erreichen.

Was ich gerne vorher gewusst hätte: Viele der spannendsten Orte, wie eben die Gebläsehalle, sind nur von außen zu besichtigen oder im Rahmen von Veranstaltungen zugänglich. Es lohnt sich also, den Besuch um ein Event herum zu planen, um das volle Erlebnis zu haben. Ansonsten ist es ein fantastischer Ort, um die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen und die beeindruckende Transformation zu bestaunen.

Fazit: Neunkirchen – Die ehrliche Perle des Saarlandes

Neunkirchen wird vielleicht nie die klassische Schönheit von Heidelberg oder den internationalen Glanz von Saarbrücken haben. Aber das will es auch gar nicht. Es ist eine Stadt mit Narben, aber auch mit einem unglaublich starken Charakter. Die Mischung aus monumentaler Industriekultur, überraschend viel Natur und ehrlicher, bodenständiger Lebensart hat mich tief beeindruckt. Es ist die perfekte Alternative für Reisende, die mehr als nur eine hübsche Fassade suchen. Neunkirchen erzählt eine Geschichte – eine von harter Arbeit, schmerzhaftem Wandel und einem stolzen Neuanfang. Eine Reise, die mich überrascht und begeistert hat und die ich jedem ans Herz legen kann, der das Besondere sucht.

Brittany Alaine Koehler

Brittany Koehler ist eine amerikanische Autorin und Bloggerin, die in Norddeutschland lebt. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Themen „Slow Living“, kulturelle Eingewöhnung und die persönlichen Veränderungen, die das Leben im Ausland mit sich bringt.