Dieses Pestizid schädigt nicht Bienen, sondern Kindergehirne

von Elke Schneider
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Jahrelang konzentrierte sich die öffentliche Debatte über Pestizide auf eine sichtbare Tragödie: das Bienensterben. Während Neonicotinoide die Schlagzeilen dominierten, wirkte ein anderes, weitaus älteres Insektizid im Stillen – nicht primär in Bienenstöcken, sondern in der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Die Rede ist von Chlorpyrifos, einer Substanz, die jahrzehntelang als harmloser Helfer in der Landwirtschaft galt und heute im Zentrum einer beunruhigenden Erkenntnis steht: Wir haben möglicherweise eine ganze Generation unwissentlich einer Chemikalie ausgesetzt, die die kognitive Entwicklung von Kindern beeinträchtigt.

Bis zu seinem Verbot in der EU im Jahr Januar 2020 war Chlorpyrifos allgegenwärtig. Es wurde auf Obstplantagen, Getreidefeldern und Gemüseäckern versprüht, um Schädlinge abzutöten. Es fand sich in Ameisenködern für den Hausgebrauch und schützte Lagerhallen vor Insektenfraß. Der Grund für seine Beliebtheit war simpel: Es war hochwirksam, schnell und vor allem billig. Doch hinter dieser Effizienz verbirgt sich eine dunkle chemische Verwandtschaft. Chlorpyrifos gehört zur Klasse der Organophosphate, einer Gruppe von Nervengiften, die ursprünglich im Zweiten Weltkrieg als potenzielle chemische Kampfstoffe entwickelt wurden.

Die Wirkungsweise ist brutal effektiv. Das Molekül blockiert ein entscheidendes Enzym im Nervensystem von Insekten, die Acetylcholinesterase. Ohne dieses Enzym kommt die Reizweiterleitung zwischen den Nervenzellen zum Erliegen, was zu Lähmungen und schließlich zum Tod des Schädlings führt. Das fundamentale Problem: Das menschliche Nervensystem funktioniert nach demselben biochemischen Prinzip. Zwar ist ein erwachsener Mensch weitaus widerstandsfähiger als ein Insekt, doch eine bestimmte Gruppe ist extrem verwundbar: ungeborene Kinder im Mutterleib.

Das Gehirn im Fadenkreuz

Während der Schwangerschaft durchläuft das fötale Gehirn eine Phase explosiven Wachstums. Milliarden von Neuronen bilden Billionen von Verknüpfungen, die Synapsen. Dieses komplexe Netzwerk ist die Grundlage für zukünftiges Lernen, Erinnern und Fühlen. Genau in diesem kritischen Entwicklungsfenster entfaltet Chlorpyrifos seine verheerende Wirkung. Studien, unter anderem von Forschern der Columbia University in New York und der University of California, zeichnen ein klares Bild: Bereits geringe Konzentrationen des Pestizids im Körper der Mutter können die Gehirnarchitektur des Kindes messbar verändern.

Die Folgen zeigen sich oft erst Jahre später. Kinder, die im Mutterleib höheren Dosen von Chlorpyrifos ausgesetzt waren, weisen im Durchschnitt einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) auf. Sie leiden häufiger an Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), haben schlechtere Gedächtnisleistungen und zeigen strukturelle Anomalien in bestimmten Hirnregionen. Im Gegensatz zu Schwermetallen wie Blei oder Quecksilber reichert sich Chlorpyrifos nicht dauerhaft im Körper an; es wird relativ schnell abgebaut. Doch das ist kein Grund zur Entwarnung. Das Problem ist die getimte, kurzzeitige Exposition: Trifft die Chemikalie genau dann auf den sich entwickelnden Organismus, wenn ein entscheidender neurologischer Prozess stattfindet, kann der Schaden permanent sein.

Ein langer Weg zum Verbot: Wissenschaft gegen Wirtschaftsinteressen

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Die Gefahren von Organophosphaten sind nicht neu. Erste Warnungen aus der Wissenschaft gab es bereits in den 1990er Jahren. Warum also dauerte es Jahrzehnte, bis ein Verbot durchgesetzt wurde? Die Geschichte von Chlorpyrifos ist auch ein Lehrstück über den Einfluss von Industrie-Lobbyismus auf politische Entscheidungen. Entwickelt und 1965 auf den Markt gebracht von Dow Chemical (heute Corteva Agriscience), war das Pestizid ein Milliardengeschäft. Der Hersteller finanzierte jahrelang eigene Studien, die die Sicherheit des Produkts belegen sollten, und investierte massiv in Lobbyarbeit in Brüssel und Washington.

Dokumente belegen, wie die Industrie versuchte, unabhängige wissenschaftliche Ergebnisse in Zweifel zu ziehen und den regulatorischen Prozess zu verlangsamen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) spielte dabei eine Schlüsselrolle. Über Jahre hinweg galt ein Grenzwert, der auf Studien an erwachsenen Tieren basierte und die besondere Anfälligkeit des fötalen Gehirns nicht ausreichend berücksichtigte. Erst als der öffentliche und wissenschaftliche Druck wuchs, leitete die EFSA eine Neubewertung ein. Das Ergebnis im Jahr 2019 war unmissverständlich: Die Experten kamen zu dem Schluss, dass keine sichere Expositionsgrenze für Chlorpyrifos festgelegt werden kann. Es gebe „Bedenken hinsichtlich möglicher genotoxischer Wirkungen sowie neurologischer Effekte während der Entwicklung“. Dieser Befund entzog dem Pestizid jegliche Existenzberechtigung auf dem europäischen Markt und führte zum Verbot durch die EU-Kommission.

Eine globale Bedrohung bleibt

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Das Verbot in der Europäischen Union war ein Meilenstein für den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. In vielen Teilen der Welt, darunter große Agrarnationen, wird Chlorpyrifos weiterhin legal eingesetzt. Das stellt europäische Verbraucher vor ein Dilemma: Was ist mit importiertem Obst, Gemüse oder Getreide aus Ländern, in denen das Pestizid noch erlaubt ist? Zwar gelten für Importe in die EU strenge Rückstandshöchstgehalte, doch Kontrollen sind stichprobenartig. Die Gefahr einer „importierten Belastung“ bleibt bestehen.

Die weitreichendste Frage ist jedoch die nach dem Vermächtnis. Generationen von Menschen in Europa und Nordamerika sind mit Chlorpyrifos aufgewachsen – als unsichtbarer Begleiter in ihrer Nahrung. Es ist unmöglich, im Nachhinein festzustellen, wie viele Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten auf diese frühe chemische Exposition zurückzuführen sind. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Streben nach billiger und massenhafter Lebensmittelproduktion einen hohen, oft unsichtbaren Preis hat. Die Geschichte von Chlorpyrifos ist eine Mahnung, dass die wahren Kosten eines Pestizids nicht nur am Ernteertrag gemessen werden dürfen, sondern auch am unbezahlbaren Wert der Gesundheit unserer Kinder.

Elke Schneider

Elke Schneider ist eine vielseitige Sammlerin von Fachkenntnissen. Ihren Weg in den Journalismus begann sie mit einem soliden Fundament aus ihrem Studium an der Universität Dresden. Literatur, Kunstgeschichte und Philologie sind ihre Lieblingsfächer.