Brutales Gold-Experiment stellt Physik auf den Kopf

von Elke Schneider
brutales gold experiment stellt physik auf den kopf

Gold ist mehr als nur ein Edelmetall; es ist ein physikalischer Ankerpunkt. Seit Jahrhunderten verlassen sich Wissenschaft und Industrie auf seine beständigen Eigenschaften. Seine Korrosionsbeständigkeit und thermische Stabilität gelten als feste Größen in einer Welt ständigen Wandels, entscheidend für alles von wertvollem Schmuck bis hin zu essenziellen Komponenten in der Raumfahrt- und Medizintechnik. Doch ein kürzlich durchgeführtes Experiment hat dieses Fundament erschüttert und Forscher weltweit gezwungen, eine der grundlegendsten Eigenschaften von Materie neu zu bewerten: den Punkt, an dem sie schmilzt.

Ein internationales Forschungsteam hat geschafft, was lange als unmöglich galt. In den Hallen des European XFEL in Schenefeld bei Hamburg, einer der modernsten und leistungsstärksten Röntgenlaser-Anlagen der Welt, nutzten die Wissenschaftler einen ultrakurzen Laserimpuls, um winzige, nur 50 Nanometer dicke Goldfragmente zu erhitzen – dünner als ein menschliches Haar. Unter normalen Umständen liegt der Schmelzpunkt von Gold bei präzisen 1064 Grad Celsius. Doch in diesem Versuch schnellte die Temperatur auf fast 18.700 Grad Celsius in die Höhe, ohne dass die feste Kristallstruktur des Goldes sofort zerfiel. Für einen kurzen, aber auf atomarer Ebene entscheidenden Moment, widersetzte sich das Metall den Gesetzen der Thermodynamik, wie wir sie kannten.

Ein alter Grundsatz wird pulverisiert

Die Beobachtungen, die in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurden, beschreiben ein Phänomen, das als extreme Überhitzung oder „Superheating“ bekannt ist. Der Schlüssel liegt in der unvorstellbaren Geschwindigkeit des Prozesses. Der Laser erhitzte das Material mit einer Rate von über 6 × 10¹⁵ Kelvin pro Sekunde. Diese Geschwindigkeit ist so extrem, dass die Wärmeenergie in das Atomgitter gepumpt wird, bevor die Atome selbst die Zeit haben, ihre geordnete feste Struktur aufzugeben und in den chaotischen flüssigen Zustand überzugehen. Für mehr als zwei Pikosekunden – eine unvorstellbar kurze Zeit, in der Licht nur etwa 0,6 Millimeter zurücklegt – blieb das Gold in einem metastabilen, festen Zustand bei Temperaturen, die eher dem Inneren eines Sterns als einem irdischen Labor ähneln.

Damit widerlegt das Experiment direkt eine seit 1988 etablierte Theorie der Materialphysik: das Konzept der Entropie-Katastrophe. Dieses von den Physikern Fechte und Johnson aufgestellte Modell besagte, dass ein Festkörper nicht über das Dreifache seiner Schmelztemperatur erhitzt werden kann, ohne unweigerlich zu schmelzen. Die Theorie basierte auf der Annahme, dass an diesem Punkt die Unordnung (Entropie) im festen Kristallgitter so groß wird, dass sie der Unordnung einer Flüssigkeit entspricht und der feste Zustand schlichtweg nicht mehr existieren kann. Das Gold-Experiment zeigt nun: Diese Grenze existiert nicht, wenn der Prozess schnell genug abläuft. Die Wärmeenergie wird so schnell zugeführt, dass die Entropie des Festkörpers nicht mitkommt und der von der klassischen Theorie vorhergesagte thermodynamische Kollaps ausbleibt.

Ein Blick ins Herz der Materie

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Der technologische Triumph hinter diesem Durchbruch liegt in der Fähigkeit, diese extremen Temperaturen in Echtzeit zu messen. Eine indirekte Messung wäre ungenau gewesen; die Forscher mussten den Zustand der Atome direkt beobachten. Hier kam die Stärke des European XFEL zum Tragen. Mit einer Methode namens inelastische Röntgenstreuung konnten die Wissenschaftler die Schwingungen des Atomgitters präzise erfassen. Vereinfacht gesagt, lauschten sie dem „Klang“ der vibrierenden Ionen. Die spektrale Breite der gestreuten Röntgenstrahlen verriet ihnen direkt die Temperatur des Gitters, ohne Umwege über theoretische Modelle.

Jeder ultrakurze Laserimpuls setzte einen Kaskadeneffekt in Gang: Zuerst wurden Elektronen angeregt, die ihre Energie fast augenblicklich an das Gitter aus Gold-Ionen weitergaben. Die Röntgenstrahlen des XFEL fungierten dabei als eine Art Stroboskop auf atomarer Ebene, das Momentaufnahmen dieses Prozesses machte. Die Messungen bestätigten zweifelsfrei, dass das für festes Gold charakteristische Beugungssignal bis zu einer Temperatur von fast 19.000 Kelvin erhalten blieb und erst nach zwei bis drei Pikosekunden verschwand. Es war der direkte Beweis, dass Gold in einem Temperaturbereich fest blieb, der jahrzehntelang als Domäne von Gas und Plasma galt.

Was bedeutet das für unsere Welt?

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Die Konsequenzen dieser Entdeckung reichen weit über die Grundlagenforschung hinaus. Die Autoren der Studie stellen eine provokante Frage: Was, wenn der Schmelzpunkt, den wir im Alltag und in der Industrie als feste Konstante betrachten, gar keine inhärente Eigenschaft eines Materials ist? Womöglich ist er nur ein Ergebnis der relativ langsamen Zeitskala unserer Experimente. Dies wirft ein neues Licht auf extreme Naturphänomene wie Asteroideneinschläge oder die Prozesse im Inneren von Planeten, wo Materie extrem schnellen Druck- und Temperaturänderungen ausgesetzt ist. Das Verständnis dieser Abläufe ist entscheidend für die Astrophysik und die Geophysik.

Auch für die technologische Entwicklung könnten sich neue Wege eröffnen. In Bereichen wie der Entwicklung von Materialien für zukünftige Fusionsreaktoren – wie dem internationalen ITER-Projekt in Frankreich – oder für Hitzeschilde bei Hyperschallflugzeugen ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen, kurzen Hitzepulsen von entscheidender Bedeutung. Wenn Materie unter bestimmten Bedingungen hitzebeständiger ist als bisher angenommen, könnten völlig neue Werkstoffe und Schutzschichten konzipiert werden.

Die entscheidende Frage bleibt, ob dieses Phänomen auf Gold beschränkt ist oder eine universelle Eigenschaft von Materie darstellt. Sollten Folgeexperimente mit anderen Elementen ähnliche Ergebnisse zeigen, stünde die Materialwissenschaft vor einer fundamentalen Neubewertung ihrer Modelle zur Stabilität von Festkörpern. Das Experiment am European XFEL ist somit nicht nur ein Beleg für die Leistungsfähigkeit europäischer Spitzenforschung, sondern auch ein Fenster in ein neues physikalisches Territorium, in dem die vertrauten Regeln von Zeit und Temperatur ihre Gültigkeit verlieren.

Elke Schneider

Elke Schneider ist eine vielseitige Sammlerin von Fachkenntnissen. Ihren Weg in den Journalismus begann sie mit einem soliden Fundament aus ihrem Studium an der Universität Dresden. Literatur, Kunstgeschichte und Philologie sind ihre Lieblingsfächer.