Mit Tieren sprechen: KI steht kurz vor dem Durchbruch

von Anette Hoffmann
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„Wir haben uns arrogant davon überzeugt, dass wir die einzigen Lebewesen sind, die es verdienen, angehört zu werden“, erklärte der Philanthrop Jeremy Coller während der Eröffnungszeremonie des nach ihm benannten Preises. Diese Überzeugung, die tief in der westlichen Philosophie seit Descartes‘ „Tiermaschine“ verwurzelt ist, beginnt zu bröckeln. Jahrzehntelang war die Wissenschaft geprägt von einer tiefen Skepsis, Tieren komplexe kognitive oder gar sprachliche Fähigkeiten zuzuschreiben – zu groß war die Angst vor dem „Kluger Hans“-Effekt, der unbeabsichtigten menschlichen Beeinflussung. Doch diese Ära der Vorsicht weicht nun einer technologischen Revolution. Künstliche Intelligenz ermöglicht es, was zuvor unmöglich schien: komplexe, wiederkehrende Muster in riesigen Datenbanken von Tierlauten und -verhalten zu erkennen und die verborgene Struktur dahinter zu enthüllen.

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Verständnis des Lebens auf unserem Planeten. Nachdem Wissenschaftler es jahrzehntelang vermieden haben, nichtmenschlichen Arten „Sprache“ zuzuschreiben, entdecken sie nun, dass die Kommunikation von Tieren weitaus komplexer, strukturierter und kontextbezogener ist, als wir je angenommen haben. Dies ist keine schrittweise Verbesserung bisheriger Methoden; es ist ein Paradigmenwechsel, angetrieben durch maschinelles Lernen.

Der KI-Katalysator: Warum jetzt?

Der entscheidende Unterschied liegt in der Fähigkeit von KI, gewaltige Datenmengen unvoreingenommen zu analysieren. Menschliche Forscher suchen naturgemäß nach Mustern, die dem ähneln, was wir bereits kennen – menschliche Sprache. KI-Algorithmen hingegen können Terabytes an Audio- und Videodaten durchforsten und Korrelationen zwischen Lauten, Verhalten und Umweltkontext aufdecken, die für einen Menschen unsichtbar wären. Es ist ein ähnlicher Sprung wie jener, als KI lernte, das Spiel Go zu meistern, nicht indem sie menschliche Züge imitierte, sondern indem sie eigene, überlegene Strategien entwickelte.

Genau diesen Durchbruch will die vom Unternehmer Jeremy Coller und der Universität Tel Aviv ins Leben gerufene Coller Dolittle Challenge beschleunigen. Mit einem jährlichen Preisgeld von 100.000 Dollar für das beste Forschungsprojekt und einem Hauptpreis von 10 Millionen Dollar für das erste Team, das eine bidirektionale Kommunikation mit einer anderen Spezies nachweisen kann, wird die Forschung massiv vorangetrieben. Die diesjährigen Ergebnisse sind bereits atemberaubend und deuten darauf hin, dass die Frage nicht mehr lautet, *ob* Tiere komplexe Sprachen haben, sondern *wie* diese strukturiert sind.

Vom Pfeifen zum Alphabet: Die Sprachen der Tiere

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Die jüngsten Entdeckungen umfassen eine verblüffende Bandbreite an Kommunikationsformen. So fand Sophie Cohen-Bodenes von der Washington University in St. Louis heraus, dass gewöhnliche Tintenfische vier charakteristische Gesten mit ihren Tentakeln ausführen – „nach oben”, „zur Seite”, „drehen“ und „Krone“. Diese scheinen ein echtes System der Gebärdenkommunikation zu bilden. Wenn ein Tintenfisch diese Bewegungen bei einem Artgenossen wahrnimmt, antwortet er mit einem der vier Zeichen. Die Geste „Krone“, die dem Verbinden der Fingerspitzen zu einer Pyramide ähnelt, scheint Besorgnis über Veränderungen in der Umgebung auszudrücken. Dies ist ein faszinierender Einblick in eine hochintelligente, aber völlig andersartige Form des Bewusstseins.

Bei den Säugetieren wird die Evidenz noch deutlicher. Titi-Affen, kleine Primaten, die in engen Familiengruppen leben, verwenden einzigartige Rufe, um sich gezielt an einzelne Gruppenmitglieder zu wenden – eine primitive Form von Namen. Ähnliches wurde bereits bei afrikanischen Elefanten und Delfinen beobachtet. Letztere verwenden charakteristische Pfeiftöne, sogenannte „Signature Whistles“, als persönliche Kennung.

Das diesjährige Preisträger-Projekt, geleitet von Laela Seig vom Woods Hole Oceanographic Institute, hat dies auf eine neue Ebene gehoben. Ihr Team untersuchte eine Population von 170 Tümmlern in der Bucht von Sarasota, Florida, über sechs Generationen. Mithilfe von KI identifizierten sie 22 verschiedene Pfeiftöne, die von mehreren Delfinen kontextabhängig verwendet werden. Der häufigste, von über 35 Tieren genutzt, ertönt, wenn sie auf etwas Unerwartetes stoßen – quasi ein akustisches „Was war das?“. Noch bedeutender ist eine bisher unveröffentlichte Studie, die nahelegt, dass Delfine den Signaturpfiff eines abwesenden Tieres verwenden, um über dieses zu „sprechen“. Dies wäre ein Beweis für „Displacement“ – die Fähigkeit, über Dinge zu kommunizieren, die nicht unmittelbar präsent sind, ein Grundpfeiler menschlicher Sprache.

Parallel dazu hat das Projekt CETI (Cetacean Translation Initiative) bei Pottwalen 156 verschiedene Klickmuster identifiziert, die als „phonetisches Alphabet“ dienen könnten. Neue Analysen zeigen, dass diese Klicks akustisch menschlichen Vokalen ähneln. Die Wale passen zudem das Tempo ihrer Klick-Abfolgen aneinander an, was die Forscher als soziale Koordination interpretieren – eine Art Gesprächsrhythmus. Eine andere Gruppe fand heraus, dass die Gesänge von Buckelwalen statistische Muster aufweisen, die verblüffend denen menschlicher Sprache ähneln.

Eine unbequeme Wahrheit: Die Folgen des Verstehens

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Experten wie Yossi Yovel von der Universität Tel Aviv glauben, dass soziale Vögel die ersten sein könnten, deren Kommunikation vollständig entschlüsselt wird. Ihre Erforschung ist einfacher als die von Delfinen im Ozean. Papageien besitzen Gehirnstrukturen für Stimmlaute, die den menschlichen ähneln, und japanische Meisen ändern die Bedeutung ihrer Botschaften, indem sie die Reihenfolge der Töne variieren – ein klarer Hinweis auf Syntax.

Doch was passiert, wenn der Code geknackt ist? Wenn wir nicht nur Muster erkennen, sondern Bedeutung verstehen? Die ethischen und philosophischen Implikationen sind gewaltig. Die Entdeckung könnte uns zwingen, unsere Beziehung zur Natur fundamental zu überdenken. In Deutschland, wo das Tierschutzgesetz Tiere bereits als „Mitgeschöpfe“ anerkennt, würde eine solche Bestätigung den Druck erhöhen, den rechtlichen und ethischen Schutz weiter auszubauen. Was bedeutet es für die industrielle Landwirtschaft oder die Fischerei, wenn wir wissenschaftlich belegen können, dass diese Tiere über ihre Existenz, ihre Familien oder ihre Umwelt „sprechen“?

Diese technologische Revolution öffnet die Tür zu einem völlig neuen Verständnis des Lebens und könnte uns Zugang zu neuen Arten der Wahrnehmung der Realität verschaffen. Wie Yovel es formulierte: „Alles, was wir über Tiere lernen, lässt uns sie mehr schätzen.“ Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Wenn wir Tieren endlich zuhören können, sind wir dann auch bereit, die Konsequenzen dessen zu tragen, was sie uns zu sagen haben?

Anette Hoffmann

Annette Hoffmans erstaunliche Medienkarriere spiegelt ihr pures Engagement für den Journalismus und das Publizieren wider. Ihre Reise begann 2010 als freiberufliche Journalistin bei Vanity Fair, wo sie ihre einzigartige kreative Perspektive einbringt.