Die Geyer-Anderson-Katze: Das Werk, das dich beobachtet

Lily, die jüngste meiner Katzen und der jüngste Neuzugang in unserer Familie, sitzt aufrecht am Fenster und beobachtet die Vögel im Garten. Sie folgt ihnen mit den Augen, ohne sich zu bewegen. Es scheint, als würde sie nicht einmal atmen. Dann, fast wie eine Yogalehrerin, geht sie in einer subtilen Bewegung in die Hocke, die sie in Angriffsposition bringt. Aber zwischen ihnen ist Glas: Es wird keinen Angriff geben. Lily beschließt, in einer Sprache zu sprechen, die nur sie kennt und die sie ausschließlich mit den Vögeln draußen verwendet. Es ist eine Art unterbrochenes Gackern, das nur jemand erkennen kann, der schon einmal eine Katze so gehört hat. Es klingt gleichzeitig rührend und komisch: Es scheint, als sei der Jagdinstinkt der Katze geweckt worden, und es klingt ganz und gar nicht wie das Miauen, mit dem sie sich an Menschen wenden.
Manchmal finde ich sie auf dem Tisch neben meinem Bett sitzend, schwach beleuchtet vom Nachtlicht, und sie sieht aus wie eine ägyptische Göttin, die man in einem Garten in Buenos Aires treffen könnte. Diese Haltung, diese stille, allwissende Präsenz, erinnert mich jedes Mal an eine andere Katze – eine, die seit über 2500 Jahren dieselbe Pose einnimmt, eingeschlossen in einer Vitrine in London.
Ankunft im British Museum: Mehr als nur der Stein von Rosetta
Die meisten Besucher stürmen ins British Museum in London mit einem klaren Ziel: den Stein von Rosetta in Saal 4. Er ist der unbestrittene Superstar, ein Magnet für Touristen, die ihre Handys hochhalten und sich den Hieroglyphen nähern, als könnten sie das Geheimnis durch die Kameralinse lüften. Ich war schon unzählige Male dort, und es ist immer das Gleiche: eine dichte Menschentraube, jeder kämpft um das perfekte Foto. Der Besuch ist übrigens kostenlos, was für uns Deutsche immer wieder erstaunlich ist, aber ich empfehle dringend, online ein kostenloses Zeitfenster zu buchen, um lange Warteschlangen am Eingang zu vermeiden.
Mein Tipp, um den Stein von Rosetta wirklich zu würdigen: Besuchen Sie ihn entweder direkt nach der Öffnung um 10 Uhr morgens oder in der letzten Stunde vor Schließung. Oder, noch besser, schauen Sie sich zuerst die perfekte Nachbildung im Enlightenment-Saal (Raum 1) an. Dort können Sie in aller Ruhe die Inschriften studieren, bevor Sie sich dem Original mit seinem Trubel nähern.
Aber die wahre Magie für mich liegt nur ein paar Meter weiter. Man muss nur den Blick vom Stein abwenden und weiter in den Raum gehen, um fast im Halbdunkel die Geyer-Anderson-Katze zu finden. Sie hat nicht die Monumentalität eines Obelisken und nicht den Ruhm einer Pharaonenmumie, aber dennoch zieht sie mit einer besonderen Anziehungskraft den Blick auf sich: ein sitzendes, regungsloses Wesen, das schon seit fünfundzwanzig Jahrhunderten zu warten scheint.
Eine Begegnung mit der Göttin Bastet

Mit einer Höhe von 42 Zentimetern, fast wie eine echte Katze, wurde diese Bronzestatue um 600 v. Chr. als eine der Darstellungen der Göttin Bastet geschaffen, der Schutzpatronin der Häuser und Tempel. Sie verkörpert die sanfte, mütterliche Seite der Götterwelt – im Gegensatz zu ihrem Gegenstück, der löwenköpfigen Kriegsgöttin Sachmet. Die Katze sitzt auf ihren Hinterbeinen, blickt ruhig nach vorne und hat den Schwanz elegant um ihren Körper gelegt. Die Augen, die einst mit Edelsteinen oder Bergkristallen gefüllt waren, sind heute leere Höhlen, was ihren Blick nur noch intensiver macht.
Die Geschichte dieses Exponats ist, wie die vieler anderer hier, mit der Sammelleidenschaft europäischer Entdecker verbunden. Oberst Robert Grenville Geyer-Anderson, ein britischer Militärarzt, erwarb sie und schenkte sie 1939 dem Museum. Sein ehemaliges Wohnhaus in Kairo ist heute selbst ein faszinierendes Museum, das Gayer-Anderson-Museum – ein echter Geheimtipp, falls Sie mal in Ägypten sind.
Irgendwann in ihrer langen Geschichte schmückte jemand die Statue mit goldenen Ohrringen und sogar einem Nasenring. Auf ihrer Brust trägt sie das schützende Auge des Horus. Nehmen Sie sich wirklich die Zeit, um die Vitrine herumzugehen. Das Licht im Museum fällt je nach Tageszeit anders und enthüllt immer neue Details, wie die feinen Gravuren, die das Fell andeuten, oder die beiden Skarabäen-Käfer – Symbole der Wiedergeburt – auf Kopf und Brust.
Der Blick, der mehr sagt als alle Hieroglyphen

Ich habe ein Foto von meiner ersten Begegnung mit der Geyer-Anderson-Katze. Ich blicke fasziniert durch die Vitrine auf sie. Ich weiß, dass es sich um eine der am besten erhaltenen Figuren des alten Ägypten handelt und trotz ihrer geringen Größe um eines der Meisterwerke des Museums. Ich erinnere mich, wie ich damals dachte: „Sie ist genau wie meine Katze zu Hause.“ Diese Mischung aus Anmut, Geduld und einer leichten Arroganz – das ist universell.
Am meisten fasziniert mich ihr Profil. Ich schaue sie an und warte fast darauf, dass sie sich bewegt, die Augen schließt oder beginnt, ihr Fell zu lecken. Der Stein von Rosetta verspricht, eine verlorene Sprache zu entschlüsseln; die Katze erklärt nichts, sie beobachtet nur. Und darin liegt ihr Trick: Unter ihrem heute leeren Blick fühlt man sich übersetzt, entschlüsselt. Während die Menschenmassen am Stein von Rosetta vorbeiziehen, entsteht hier eine intime Verbindung über die Jahrtausende hinweg.
Auf dem Nachttisch übt Lily manche Nächte ihr besonderes Wachsein. Die Göttin Bastet beschützte vor Schlangen und bösen Geistern. Ich bitte Lily nur, die Schatten der Schlaflosigkeit zu vertreiben und mir die Gewissheit zu geben, dass ich in der Nacht nicht allein bin. Wenn ich Glück habe, kommt sie, um neben mir zu schnurren, und ich schlafe wieder ein. Ein kleiner Trost, inspiriert von ihrer großen, bronzenen Ahnin in London.
Praktische Tipps für Ihren Besuch bei der Katze
Wenn Sie diese stille Begegnung selbst erleben möchten, hier ein paar Hinweise für Ihren Besuch im British Museum:
- Anreise: Am einfachsten erreichen Sie das Museum mit der U-Bahn. Die nächstgelegenen Stationen sind Tottenham Court Road (Central und Northern Line) und Holborn (Central und Piccadilly Line). Von dort sind es nur 5-10 Minuten zu Fuß.
- Eintritt & Zeiten: Der Eintritt ist kostenlos. Buchen Sie aber unbedingt Ihr kostenloses Zeitfenster vorab online auf der Museums-Website, um Wartezeiten zu vermeiden. Das Museum ist täglich von 10:00 bis 17:00 Uhr geöffnet (freitags bis 20:30 Uhr).
- Wo genau finden? Die Geyer-Anderson-Katze befindet sich in Raum 4 (Egyptian Sculpture) im Erdgeschoss. Wenn Sie vor dem Stein von Rosetta stehen, gehen Sie einfach weiter in den Hauptteil des Saales hinein. Sie befindet sich in einer Glasvitrine auf der rechten Seite.
- Was man noch sehen sollte: Wenn Sie schon von den Massen weg sind, verpassen Sie nicht die nahegelegenen Lewis-Schachfiguren (Raum 40) oder den atemberaubenden Schatz von Sutton Hoo (Raum 41). Das sind weitere „stille Stars“ des Museums, die oft übersehen werden.