Über 65? Zu langsam gehen erhöht Ihr Sturzrisiko enorm

Viele Senioren glauben, dass langsames und bedächtiges Gehen der Schlüssel zur Sicherheit ist. Es fühlt sich intuitiv richtig an, im Alter vorsichtiger zu werden und das Tempo zu drosseln. Doch aktuelle Forschung zeigt ein überraschendes und wichtiges Paradoxon: Wer zu langsam geht, erhöht sein Sturzrisiko dramatisch. Die entscheidende Frage ist nicht mehr „Wie schnell darf ich gehen?“, sondern „Wie langsam ist bereits zu langsam für meine Sicherheit?“
Warum zu langsames Gehen gefährlicher ist als gedacht
Wissenschaftler erklären dieses Phänomen mit dem sogenannten „Double-Support-Paradoxon“. Wer extrem langsam geht, verbringt mehr Zeit mit beiden Füßen am Boden (der „Double-Support-Phase“). Theoretisch klingt das stabiler. Praktisch führt es jedoch zu längeren Phasen der Instabilität zwischen den Schritten und einer größeren Schrittvariabilität. Das Gleichgewicht wird stärker gefordert, statt geschont.
Stellen Sie es sich wie beim Fahrradfahren vor: Fährt man zu langsam, wird das Rad wackelig und kippt leichter. Bei einer gewissen Grundgeschwindigkeit stabilisiert es sich von selbst. Ähnlich ist es beim Gehen. Ein zu zögerlicher Gang kann das System aus dem Takt bringen.
Besonders kritisch wird es im Alltag, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig tun – eine Tasche tragen, uns unterhalten oder auf den Verkehr achten. Unter diesen Bedingungen sinkt die Gehgeschwindigkeit bei über 70-Jährigen oft auf ein kritisches Niveau. Eine Studie zeigte, dass bei nur 0,57 m/s bereits das sichere Überqueren einer Straße innerhalb der Grünphase scheitert. Forscher haben 1,22 Meter pro Sekunde (ca. 4,4 km/h) als einen wichtigen funktionellen Schwellenwert identifiziert. Wer deutlich darunter liegt, sollte aktiv werden.
Ihre Gehgeschwindigkeit: Ein übersehenes Vitalzeichen

Betrachten Sie Ihre Gehgeschwindigkeit wie Puls oder Blutdruck – als ein „Vitalzeichen des Alterns“. Sie ist ein direkter Indikator für Ihre Muskelkraft in den Beinen, die Reaktionsfähigkeit Ihres Nervensystems und die Gesundheit Ihres Herz-Kreislauf-Systems. Eine angemessene Geschwindigkeit korreliert direkt mit funktioneller Mobilität und letztlich auch mit der Lebenserwartung. Es geht nicht darum, Rekorde zu brechen, sondern darum, eine solide, sichere Basis zu erhalten.
Was Sie jetzt konkret tun können: Ein einfacher 3-Säulen-Plan

Die gute Nachricht ist: Sie können Ihre Gangsicherheit aktiv trainieren. Anstatt sich nur vage vorzunehmen, „schneller zu gehen“, können Sie mit einem strukturierten Ansatz beginnen, der auf drei Säulen ruht. Führen Sie die Übungen nur aus, solange Sie sich dabei wohl und sicher fühlen.
Säule 1: Die Gehtechnik bewusst verbessern
Oft sind es kleine technische Anpassungen, die eine große Wirkung haben. Konzentrieren Sie sich bei Ihrem nächsten Spaziergang auf folgende Punkte:
- Blick nach vorn: Schauen Sie nicht auf Ihre Füße, sondern heben Sie den Kopf und richten Sie den Blick etwa 3-4 Meter vor sich auf den Weg. Das allein verbessert Haltung und Gleichgewicht enorm.
- Arme einsetzen: Lassen Sie Ihre Arme locker aus den Schultern mitschwingen. Ein aktiver Armschwung gibt Ihnen mehr Dynamik und Stabilität.
- In Intervallen gehen: Fordern Sie sich sanft heraus. Gehen Sie zum Beispiel von einer Parkbank bis zur nächsten Straßenlaterne ein klein wenig zügiger als gewohnt. Danach kehren Sie wieder zu Ihrem normalen Tempo zurück. Diese kleinen Tempowechsel sind ein exzellentes Training.
Säule 2: Kraft für stabile Beine und einen starken Rumpf
Stabilität beginnt in den Muskeln. Ein gezieltes Krafttraining, zwei- bis dreimal pro Woche für 15 Minuten, kann Wunder wirken. Sie brauchen dafür kein Fitnessstudio.
- Stuhl-Aufstehen: Setzen Sie sich auf die vordere Kante eines stabilen Stuhls (ohne Armlehnen). Verschränken Sie die Arme vor der Brust und stehen Sie auf, ohne die Hände zu benutzen. Langsam wieder hinsetzen. Beginnen Sie mit 5-8 Wiederholungen.
- Wadenheben: Halten Sie sich an einer Küchenzeile oder einer stabilen Stuhllehne fest. Stellen Sie sich langsam auf die Zehenspitzen, halten Sie die Position für einen Moment und senken Sie die Fersen wieder ab. Machen Sie 10-15 Wiederholungen.
- Gesäßbrücke im Liegen: Legen Sie sich auf den Rücken, stellen Sie die Füße hüftbreit auf. Heben Sie nun das Becken an, bis Oberschenkel und Oberkörper eine gerade Linie bilden. Kurz halten und langsam wieder absenken. 8-10 Wiederholungen stärken Gesäß und unteren Rücken.
Säule 3: Das Gleichgewicht gezielt trainieren
Das Gleichgewicht ist eine Fähigkeit, die wie ein Muskel trainiert werden kann und muss. Integrieren Sie diese Übungen täglich, zum Beispiel beim Zähneputzen:
- Einbeinstand: Halten Sie sich mit einer Hand an einer stabilen Oberfläche fest. Verlagern Sie Ihr Gewicht auf ein Bein und heben Sie das andere leicht vom Boden ab. Versuchen Sie, 15-30 Sekunden zu halten, bevor Sie die Seite wechseln.
- Tandemgang: Stellen Sie sich seitlich an eine Wand, sodass Sie sich bei Bedarf abstützen können. Gehen Sie eine imaginäre Linie entlang, indem Sie einen Fuß direkt vor den anderen setzen (Ferse an Spitze). Machen Sie 10 Schritte vorwärts.
Die Angst vor dem Stürzen überwinden
Oft ist es die Angst vor einem Sturz, die uns in den Teufelskreis aus langsamerem Gehen, Muskelabbau und noch größerer Unsicherheit zwingt. Erkennen Sie diese Angst an, aber lassen Sie sich nicht von ihr lähmen. Jeder kleine, erfolgreiche Schritt, jede der oben genannten Übungen, die Sie in einer sicheren Umgebung durchführen, baut nicht nur Muskeln, sondern auch wertvolles Selbstvertrauen auf. Feiern Sie diese kleinen Erfolge!
Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist
Wenn Sie sich sehr unsicher fühlen oder bereits gestürzt sind, ist es ratsam, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ihr Hausarzt ist die erste Anlaufstelle. Er kann Ihnen bei Bedarf eine Heilmittelverordnung für Physiotherapie ausstellen. Ein Physiotherapeut kann eine professionelle Ganganalyse durchführen und ein individuell auf Sie zugeschnittenes Übungsprogramm erstellen.
Fragen Sie Ihren Arzt auch nach den Möglichkeiten von Rehasport oder Funktionstraining. Diese Kurse finden in Gruppen statt, werden oft von den Krankenkassen bezuschusst oder komplett übernommen und sind eine hervorragende Möglichkeit, unter Anleitung sicher und effektiv zu trainieren.
Fazit: Nehmen Sie Ihre Sicherheit selbst in die Hand
Die revolutionäre Erkenntnis ist eindeutig: Wahre Sicherheit im Alter liegt nicht in übertriebener Langsamkeit, sondern in einer angemessenen, flüssigen Gehgeschwindigkeit, die auf einem Fundament aus Kraft und gutem Gleichgewicht steht. Beginnen Sie noch heute mit einer der kleinen Übungen. Jeder Schritt in die richtige Richtung zählt. Ihr zukünftiges, mobileres Ich wird es Ihnen danken.
Dieser Artikel dient der allgemeinen Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Sprechen Sie bei gesundheitlichen Bedenken oder vor Beginn eines neuen Trainingsprogramms immer mit Ihrem Arzt oder Physiotherapeuten.